Bleib bei mir, kleine Lady. Barbara Cartland

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Bleib bei mir, kleine Lady - Barbara Cartland Die zeitlose Romansammlung von Barbara Cartland

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hatte schnell den Gedichtband aus dem Regal genommen und war damit in dem Erker verschwunden, den man durch einen schweren roten Samtvorhang vom übrigen Raum abschließen konnte.

      Gracila hatte sich in das kleine Sesselchen gesetzt, hatte die Beine hochgeschlagen, das ledergebundene Buch aufgeschlagen und durch die Seiten geblättert, bis sie ihren Lieblingsvers gefunden hatte.

      Ein langer, langer Kuß, ein Kuß der Wonnen,

      Der Lieb und Schönheit, der in eine Glut zusammenfaßt die Strahlen aller Sonnen;

      Derartige Küsse sind der Jugend Gut

      Wenn Seel und Sinn und Herz ein voller Bronnen.

      Wie jedes Mal, wenn sie diese fünf Zeilen las, hatte sie gelächelt, doch einen Augenblick später war sie plötzlich auf den Boden der Wirklichkeit zurückgeholt worden.

      Stimmen waren vom entgegengesetzten Ende der Bibliothek in ihr Versteck gedrungen.

      Hier findet mich niemand, hatte Gracila zufrieden gedacht und weitergelesen.

      Als jedoch plötzlich ihr Name gefallen war, hatte sie aufgehorcht.

      „Gracila ist so jung und so naiv“, hatte ihre Stiefmutter gesagt, „daß sie nie Verdacht schöpfen wird. Es sei denn, man sagte es ihr.“

      „Das wird niemand tun“, hatte der Herzog entgegnet. „Jugend und Naivität wirken wie ein Schutzwall.“

      „Da hast du recht. Mein Gott, wie sehr ich mich darauf freue, dich mühelos sehen zu können. Wir können bei dir zu Gast sein, und du hier im Schloß.“ Die Gräfin hatte einen tiefen Seufzer ausgestoßen. „Oh, mein Geliebter - die Jahre ohne dich waren die Hölle für mich.“

      Gracila war zusammengezuckt. Hatte sie diese Worte tatsächlich gehört?

      „Wir müssen trotzdem sehr vorsichtig sein“, hatte der Herzog gesagt.

      „Natürlich“, hatte die Gräfin entgegnet. „Aber heute Nacht sind wir ungestört, mein Geliebter.“

      „Mit George unter demselben Dach?“

      „Er hat sich verkühlt und schläft in seinem Zimmer. Und ich komme zu dir. Oh Andrew, du weißt gar nicht, wie sehr ich mich nach dir sehne und wie ich dich brauche.“

      „Meine arme Daisy! Aber wir mußten so handeln. Wie hätte ich auch nur ahnen können, daß Elsie sechs Monate nach deiner Heirat stirbt?“

      „Das Schicksal war gegen uns“, hatte die Gräfin seufzend gesagt. „Aber jetzt werde ich dich wieder sehen können. Du ahnst nicht, wie ich mich nach dir gesehnt habe, wie du mir gefehlt hast. Nie in meinem Leben bin ich einem attraktiveren Mann begegnet.“ Sie hatte die Stimme gesenkt. „Und nie einem leidenschaftlicheren Liebhaber.“

      Gracila hatte geglaubt, zu Stein erstarren zu müssen. Und dann hatte Stille geherrscht, und sie hatte gewußt, daß der Herzog ihre Stiefmutter küßte. Einen Augenblick später hatte sie gehört, wie die Tür zur Bibliothek geschlossen wurde, und war wieder allein gewesen.

      Sie hatte sich nicht von der Stelle gerührt und war unfähig gewesen zu begreifen, was sie hier mit angehört hatte.

      Doch dann hatte sie der Wahrheit ins Gesicht gesehen.

      Der Herzog war der Geliebte ihrer Stiefmutter und war es auch schon vor der Heirat mit ihrem Vater gewesen.

      Als ihr Vater wieder geheiratet hatte, war Gracila gar nicht auf den Gedanken gekommen, in ihrer Stiefmutter eine begehrenswerte Frau zu sehen.

      In Büchern hatte sie von Frauen mittleren Alters gelesen, die auf dramatische und oft tragische Weise die Liebe suchen, aber sie hatte nicht geglaubt, je selbst damit konfrontiert zu werden.

      Ihr Vater war ein Mensch, der streng und unnahbar wirkte, und weil sie immer die Jüngste in der Familie gewesen war, hatte sie ihn, zumindest als Kind, für ziemlich alt gehalten.

      Ihre Mutter hatte ihren Vater sehr geliebt, aber sie war sehr viel jünger gewesen als er und er hatte in ihr stets ein zartes Geschöpf gesehen, um das man sich kümmern und das man verwöhnen mußte. Gracilas Mutter war nach deren Geburt sehr zerbrechlich und anfällig gewesen, hatte dabei auch so jung ausgesehen, daß man sie für die ältere Schwester Gracilas hätte halten können.

      Erst nach ihrem Tod war es Gracila klar geworden, welch großartige Freundin ihre Mutter gewesen und wie einsam und verloren sie ohne sie war.

      In jener Zeit war der Graf von einer sehr zielstrebigen und sehr weltgewandten Frau umgarnt worden.

      Daisy hatte ihm alles gegeben, was er, ohne es zu wissen, in der liebreizenden Kindlichkeit seiner zweiten Ehefrau Elizabeth vermißt hatte.

      Doch jetzt, im Erker der Bibliothek, hatte Gracila begriffen, warum sie ihrer Stiefmutter instinktiv mißtraut hatte und warum Dinge, die sie aussprach, oft so falsch wirkten.

      Gracila war schließlich aufgestanden, hatte den Gedichtband an seinen Platz zurückgestellt und gewußt, daß sie nie einen Mann heiraten würde, der sie nicht liebte.

      Sie hatte sich in ihr Zimmer zurückgezogen und war erst wieder zum Abendessen nach unten gegangen. Sie hatte den Herzog und ihre Stiefmutter beobachtet und das Gefühl gehabt, als einziger Zuschauer ein sehr unangenehmes Schauspiel vor sich abrollen zu sehen.

      Ihr Vater war der perfekte Gastgeber gewesen, und Gracila hatte förmlich gespürt, wie glücklich er war, eine so einflußreiche Persönlichkeit zum Schwiegersohn zu bekommen.

      Er ahnt es nicht einmal, hatte Gracila immer wieder denken müssen.

      Zum ersten Mal hatte sie die Stiefmutter nicht als einen Menschen gesehen, nach dem sie sich richten mußte, sondern als eine Frau ohne Moral, die ihre Reize schamlos zur Schau trug.

      Allerdings hatte Gracila zugeben müssen, daß dies nur jemandem auffiel, der den Schlüssel zur Lösung des Rätsels besaß.

      Als sich Gracila nach dem Abendessen in ihr Zimmer zurückzog, wußte sie plötzlich, daß es nur eine Möglichkeit gab - sie mußte weglaufen.

      Sie hätte es nie über das Herz gebracht, ihrem Vater die Wahrheit zu sagen, und wie hätte sie ohne diese Wahrheit die Abscheu vor der bevorstehenden Heirat begründen sollen?

      Man hätte ihr entgegnet, sie sei eben im Augenblick etwas nervös, aber das würde sich schon wieder geben. Ihre Einwände wären beiseitegeschoben worden, und sie wäre gezwungen gewesen, einem Mann ihr Jawort zu geben, der sie lediglich geheiratet hatte, um das Verhältnis mit ihrer Stiefmutter fortsetzen zu können.

      In dieser Nacht sollte Gracilas Vater unter dem eigenen Dach betrogen werden, und da Gracila dies wußte, mußte sie sofort handeln.

      Daß sie nicht zu ihren Verwandten gehen und um ihre Hilfe bitten konnte, war ihr klar. Sie wäre auf Unverständnis gestoßen und hätte lediglich zu hören bekommen, daß man einen so einflußreichen Mann wie den Herzog nicht abweist. Noch dazu im letzten Augenblick.

      Für ihre Freunde galt das gleiche. Beim Gedanken an die zehn Brautjungfern, die ihre Stiefmutter aus den besten Familien des Landes ausgewählt hatte, lief es Gracila kalt über den Rücken. Sie hatten sich

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