Damals bei uns daheim. Hans Fallada

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Damals bei uns daheim - Hans  Fallada Hans-Fallada-Reihe

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wollen wir mal sehen. Da vorne an der Ecke scheint eine vorbeizukommen. Mensch, heute abend hagelt es aber bei uns. Vor acht sind wir nicht zu Haus!«

      »Ich sag einfach, ich bin bei euch gewesen, und eure Uhr hat gestanden.«

      »Und ich sag’s so von euch, dass du Bescheid weißt. – Na, was kommt denn da für eine Elektrische? Mensch, Hans, mit der können wir bis Potsdamer Platz fahren! Los, rein!«

      Aber ich stieg nicht ein.

      »Warte einen Augenblick«, sagte ich fürchterlich aufgeregt zu Fötsch. »Steig nicht ein! Bitte, nicht! Wir nehmen die nächste! Bitte diese nicht!«

      Denn mit mir war etwas ganz Seltsames geschehen. Als ich diese Elektrische näher kommen gesehen hatte, die nicht so aussah wie »unsere« Elektrischen im Westen, mit einem tief herabgezogenen Führerstand, der vorne ein Gitter hatte zum Auffangen Unvorsichtiger, die dem Wagen vor die Räder kamen – da war mir im selben Augenblick eine Notiz in der Zeitung eingefallen, die ich vor ein oder zwei Tagen gelesen hatte. Irgendwo in Berlins Osten oder Norden war eine Elektrische in Brand geraten, es hatte einen Toten und mehrere Schwerverletzte gegeben. Und nun plötzlich, beim Heranfahren dieses Wagens, war ich blitzartig von der Erkenntnis durchdrungen, dass es solch ein Wagen gewesen war, der gebrannt hatte, dass alle Wagen dieses Typs in Brand geraten würden und dass wir keinesfalls mit einem derartigen Wagen fahren dürften …

      Weiß es der Himmel, was da plötzlich in meinem Kopf vorgegangen war! Bis dahin war ich ein wohl schwächliches, oft krankes Kind gewesen, aber von einer solchen Zwangsidee hatte noch nie jemand etwas bei mir bemerkt. Ich wusste natürlich auch jetzt nichts davon. Ich war fest überzeugt, dass ich recht hatte, dass ein Wagen dieser Bauart verbrannt war, dass alle Wagen dieser Bauart verbrennen würden, dass es mir verboten war, in ihm zu fahren …

      Und mit der eindringlichsten Beredsamkeit setzte ich dies alles Hans Fötsch auseinander. Schon beim Reden übertrieb ich. Ich behauptete, eine genaue Beschreibung des verunglückten Wagens in der Zeitung gelesen zu haben, ich wies auf die Merkmale hin: den herabgezogenen Führerstand, das Auffanggitter. Ich behauptete weiter, eine Warnung vor Wagen dieses Typs gelesen zu haben. Ich behauptete, der Wagen eben sei fast leer gewesen. Und in dem Augenblick, da ich diese Behauptungen aufstellte, glaubte ich auch schon an sie. Ich glaubte fest daran, dies gelesen, dies gesehen zu haben. Kein Mensch hätte mich noch in diesem Glauben erschüttern können.

      Und so eindringlich war dieser Glaube, dass ich Hans Fötsch fast überzeugte. Er willigte ein, noch eine Elektrische abzuwarten, vielleicht würde die andere Formen zeigen. Aber auch sie kam mit einem Schutzgitter und herabgezogenem Führerstand. Wir ließen sie vorbei. Aber Hans Fötsch lag schon in einem schweren Kampf, was besser sei: noch später zu kommen oder die Fahrt zu wagen. Als auch die nächste Elektrische die gleiche Bauart wie ihre Vorgängerin aufwies, riß er sich von mir los und sprang auf.

      »Hier fahren keine andern Wagen!« rief er mir von oben zu. »Ich muss nach Haus! Lauf hinterher, sonst stehst du um Mitternacht noch hier!«

      Frierend, hungrig wartete ich noch zwei, drei Wagen ab: sie hatten alle das gleiche Aussehen. Dann entschloss ich mich, dem Rate Fötschens zu folgen und hinter dem Wagen her zu laufen, solange ich ihn sehen konnte. Dann blieb ich stehen und wartete auf den nächsten. Es war eine anstrengende und zeitraubende Art, den Weg in den Westen zurückzulegen. Aber nicht einen Augenblick kam mir der Gedanke, mein unsinniges Tun aufzugeben. Ich hatte es doch recht sichtbar vor Augen, das diese Wagen ohne alle Unglücksfälle regelmäßig verkehrten, aber daran dachte ich gar nicht. Ich war ganz im Banne meiner fixen Idee. Ja, als ich in bekanntere Gefilde kam, als Bahnen vertrauter Bauart fuhren, ich stieg nicht ein. Ich durfte nicht fahren, es war verboten. Ich lief weiter …

      Unterdes waren meine Eltern in immer größere Angst und Aufregung geraten. Als es halb sieben und sieben wurde, hatte meine Mutter noch ihre Sorge um mich für sich allein getragen. Später dann, als mit halb acht die Abendessensstunde heranrückte, hatte sie auch Vater benachrichtigen müssen. Vater hatte sofort die Schwere des Falles begriffen. In seinem überaus geordneten Haushalt, in dem schon eine Verspätung von zwei Minuten als Übertretung, von zehn Minuten als Vergehen und von einer Viertelstunde als Verbrechen angesehen wurde, hatte es eine Verspätung von anderthalb Stunden überhaupt noch nicht gegeben! Das konnte nur ein Unglück bedeuten …

      Sofort wurden Boten an all die Stellen ausgesandt, wo ich vielleicht zu finden sein konnte, zu Elbes, Fötschens, Harringhausens, Dethleffsens … (Es gab wohl schon längst Telefon, aber nicht bei uns, überhaupt bei niemandem, den wir kannten, den Arzt Fötsch ausgenommen.) Mein Vater stieg die Treppe hinunter, sprach sorgenvoll mit dem Portier und veranlasste ihn, das Haus heute auch noch nach acht Uhr aufzuhalten. Dann ging Vater wartend in der Luitpoldstraße auf und ab, immer das Stück zwischen Martin-Luther- und Eisenacher Straße.

      Aber dann trieb ihn seine Ungeduld wieder nach oben. Er fand die ganze Familie verstört, niemand hatte zu Abend gegessen. Mutter war den Tränen nahe. Sie sah mich unter dem Omnibus (Pferdeomnibus bitte!), der Elektrischen, auf der Unfallwache … Vater redete ihr tröstend zu, aber ohne rechte Überzeugung.

      Dann kamen die Boten zurück, ohne Nachricht! Nur das Mädchen, das bei Fötschens gewesen war, berichtete, dass Hans Fötsch auch fehle. (Da der Haushalt Fötsch – wie es bei einem Arzthaushalt ja auch nicht anders sein kann – kein sehr pünktlicher Haushalt war, wurde dies Ausbleiben dort nicht so tragisch genommen.)

      In gewisser Weise beruhigte diese Nachricht meine Eltern etwas. Es war viel schwieriger, sich zwei auf einmal verunglückte Jungens vorzustellen als einen. Nachdem aber wieder eine halbe Stunde Wartens ergebnislos verstrichen war, als die Uhr schon fast neun zeigte, entschloss Vater sich, zu Fötschens hinüberzugehen. Dort war indes auch die Sorge eingekehrt. Die beiden Herren berieten sich untereinander und gingen dann, ohne Frau Fötsch etwas davon zu sagen, auf das nächste Polizeirevier.

      Aber dort hatte man wenig Trost für sie. Jungens gingen nicht so leicht verloren, meinte der Wachthabende. Nein, irgendeine Meldung von verunglückten Kindern liege nicht vor. Die Herren sollten nur ruhig ins Bett gehen, meist erledigten sich solche Vermisstmeldungen am nächsten Morgen von selbst …

      Mein Vater war empört. Er glaubte unbedingt an den fürsorgenden Vater Staat (von dem er in seinem kleinen Bezirk wirklich das gütigste und hilfsbereiteste Muster war), und es tat ihm immer in der Seele weh, wenn er im rauen Leben sah, dass dieser Vater manchmal gar nicht sehr fürsorglich, sondern oft gleichgültig, oft ungerecht, oft grob war.

      Aber das alles war sofort vergessen, als sie wieder in Fötschens Wohnung kamen. Hans Fötsch war eingetroffen. Mein Vater erwartete, nun auch den eigenen Sohn daheim vorzufinden. Aber schon die ersten Worte des Jungen zerstörten diese Illusion. Zwar versuchte Hans Fötsch zu schwindeln, Ausflüchte zu machen, zu vertuschen, aber sein Vater war nicht gegen Prügel. Es regnete nur so Ohrfeigen, und schließlich erfuhren die Herren, zwar etwas wirr, dass Fötsch mich irgendwo im Norden Berlins verlassen hatte, dicht beim Scheunenviertel, mich unbegreiflich weigernd, mit der Elektrischen zu fahren …

      »Komm, Hans, mein Rabe!« sagte Doktor Fötsch bedeutungsvoll, und bei dem nun folgenden Strafgericht war mein Vater überflüssig.

      Er musste heim zur Mutter gehen, er musste ihr die schlimme Botschaft bringen, dass ich im verrufensten Quartier Berlins zurückgeblieben sei, er musste ihr sagen, dass sie nichts tun könnten, nur warten …

      Und so warteten die beiden. Vergessen lagen die Akten, die Flickwäsche. Meine Geschwister waren ins Bett gesteckt worden, schliefen darum aber noch nicht. Sie fanden es angenehm erregend, einen verlorenen Bruder zu haben. Alle fünf Minuten erschien die alte Minna, in ihre Schürze schnüffelnd, und erkundigte sich nach Neuigkeiten.

      Gegen zehn Uhr endlich klingelte es, meine Eltern stürzten auf den Flur – es war aber nur der Portier, der fragte,

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