Damals bei uns daheim. Hans Fallada
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Damals bei uns daheim - Hans Fallada страница 15
Ja, bei dieser Gelegenheit stellte es sich heraus, dass der Verhöhner Friedemann ein ausgemachter Feigling war. Die ganze Klasse sah es, und von diesem Moment an waren er und sein Spott für alle erledigt, das muss ich zugestehen. Er machte Tage später, als er sich von meinem Angriff erholt hatte, noch einen einzigen Versuch, wieder von meinen Flicken anzufangen, aber sofort verwies es ihm einer: »Du hältst die Klappe, Friedemann! Damit ist ein für allemal Schluss!«
Ich hatte mir Duldung meiner Flicken erkloppt, aber damit war noch nicht viel gewonnen. Ich blieb der Außenseiter. In den Pausen wollte keiner mit mir gehen, niemand mochte mein Freund sein. So geriet ich allmählich immer mehr in einen Zustand tiefster Niedergeschlagenheit, der meinen Leistungen im Unterricht nicht förderlich sein konnte. Und ich muss sagen, wir hatten, um das noch zu verschlimmern, damals einige Lehrer, die alles andere, nur keine Pädagogen waren. jedem durchschnittlichen Beobachter hätte schließlich mein verschüchterter, elender Zustand auffallen müssen, doch nicht diesen Erziehern der Jugend.
Da war unser Deutschlehrer, ein noch jüngerer, mit sehr viel Schmissen gezierter Herr, der eine gewisse Vorliebe für mich hatte. Freilich äußerte er diese auf eine mir sehr peinliche Weise. Da ich zu den schlechtesten Schülern der Klasse gehörte, saß ich in der vordersten Bankreihe, direkt unter dem Lehrerpult. Herr Gräber, so hieß dieser Lehrer, verachtete es, oben auf dem Pult wie ein Gott über seinen Schülern zu thronen. Er begab sich mitten unter sie, wandelte die Gänge zwischen den Pulten auf und ab, stand aber am liebsten vor meinem Platz. Und während er nun von hier seine Knaben lebhaft und mit schallender Stimme unterrichtete, beschäftigten sich seine Hände pausenlos mit meiner Frisur …
Trotzdem ich damals schon elf oder zwölf Jahre alt war, trug ich noch immer mein Haar lang. Meine Mutter hatte sich trotz all meiner Bitten nicht entschließen können, mein fast weißes Blondhaar der Schere eines Friseurs auszuliefern. So fielen mir lange blonde Locken fast bis auf die Schultern, und in der Stirn hatte ich etwas, das offiziell »Ponnies« hieß, das meine böswilligen Mitschüler aber »Simpelfransen« nannten. Diese Ponnies oder Simpelfransen übten eine geheimnisvolle Anziehungskraft auf die Finger von Herrn Gräber aus. Die ganze Unterrichtsstunde hindurch waren seine Finger nur damit beschäftigt, aus den Fransen Zöpfchen zu drehen, kleine, sehr feste, steif von der Stirn abstehende Zöpfchen. Das hatte wohl den nicht zu unterschätzenden Vorteil, dass Herr Gräber mich nie nach etwas fragte. Für die Deutschstunde war ich stets aufgabenfrei und bekam doch eine gute Zensur. Aber wenn Herr Gräber mich dann beim Schluss der Unterrichtsstunde aufforderte, mich zu erheben, und meinen Anblick der Klasse darbot, wenn dann die unausbleibliche Lachsalve losbrach, so hätte ich lieber eine Fünf statt dieser Heiterkeit hingenommen.
Selbst in meinem damaligen Zustande tiefster Niedergeschlagenheit war ich mir klar darüber, dass dies alles von seiten Herrn Gräbers ohne den geringsten bösen Willen geschah. Es war reine Spielerei von ihm, in die wohl auch ein Gutteil Nervosität gemengt war. Ihm bedeutete es nur Spaß, und er wäre sicher erstaunt gewesen, zu hören, dass ich diesen Spaß gar nicht sehr spaßhaft fand.
Wesentlich böser dachte ich über Professor Olearius, unsern Klassenlehrer, der uns in die Geheimnisse der lateinischen Sprache einführte. Das war ein langer, knochiger Mann, schwarzbärtig, mit einem hageren Gesicht und glühenden schwarzen Augen. Er war ein Altphilologe von reinstem Wasser. Für ihn hatte auf der Welt nur das Lateinische und Altgriechische Bedeutung, und den Schüler, der sich in diesen Sprachen untüchtig erwies, hasste er mit einem ausgesprochen persönlichen Hass, als habe der Schüler dem Lehrer eine schwere Beleidigung zugefügt. Er hatte eine verdammt höhnische Art, die Schwächeren von uns aufzurufen und zu zwiebeln, die heute hoffentlich ausgestorben ist.
Da hieß es etwa: »Jetzt wollen wir mal unser Schwachköpfchen aufrufen. Zwar weiß es nichts und wird auch diesmal nichts wissen, aber er diene uns allen zum abschreckenden Beispiel.« Oder: »Der Fallada, der Fallada ist bloß zum Sitzenbleiben da!« Oder: »O Fallada, der du hangest! Wenn das dein Vater wüsste, das Schulgeld würde ihn reuen!«
Bei solchen ermunternden Aufrufen verflüchtigte sich natürlich auch der letzte Rest meines Wissens, und ich stand wirklich da wie ein echter Schwachkopf! Je mehr er auf diese höhnische Art fragte, um so tiefer versank ich im unergründlichen Sumpfe des Quatsches und muss ein wirklich klägliches Bild geboten haben. So konnte Professor Olearius mit einigem Recht sagen: »Seht ihn euch an! Was er hier eigentlich auf dem Gymnasium will, wird mir ewig rätselhaft bleiben!« Und mit allem dummstolzen Akademikerdünkel: »Die Pantinenschule wäre gerade das Rechte für ihn!«
Worauf ich prompt in Tränen ausbrach!
Überhaupt gewöhnte ich mir das Heulen bei Professor Olearius an. Es war das einzige Mittel, das ich entdeckte, seiner Anmaßung zu entgehen. Sobald er mich nur aufrief, fing ich an zu heulen. Ich machte überhaupt nicht mehr den Versuch, eine seiner Fragen zu beantworten. Er würde mich doch über kurz oder lang zum Heulen bringen, also heulte ich lieber gleich los. Dies kam so weit, dass die Klasse vor der Lateinstunde Wetten abschloss, ob ich heulen würde oder nicht. Ich wurde ermuntert, scharf gemacht: »Tu uns den einzigen Gefallen und heul heute einmal nicht! Mensch, nimm dich doch einmal zusammen!«
Aber ich konnte mir noch soviel Mühe geben, ich heulte doch. Als Steigerung meiner Qualen hatte sich Professor Olearius ausgedacht, mich aufs Lehrerpult an die schwarze Wandtafel zu rufen. Da ich vor Heulen nicht sprechen konnte, sollte ich meine Antworten auf die Tafel schreiben. Wenn dann dort statt amavissem amatus essem stand, klopfte er mit seinem harten Knöchel kräftig gegen meinen Schädel, wobei er den Spruch zitierte: »Denn wer da anklopfet, dem wird aufgetan!«
Dieses Klopfen, das er so lange wiederholte, bis die richtige Antwort an der Tafel stand, tat ausgesprochen weh. An diesem feinen Gymnasium war alles Schlagen der Schüler dem Lehrer aufs strengste verboten – es ging das Gerücht von einem Professor, der einem Schüler eine Ohrfeige gehauen und ihm dabei mit dem Siegelring eine leichte Schramme versetzt hatte, dieser Lehrer sei sofort aus dem Schuldienst entlassen worden. Aber dieses neckische Klopfen von Professor Olearius konnte keinesfalls als körperliche Züchtigung gelten, obwohl es zweifelsohne eine war.
Einige Jahre später hat es der Zufall gefügt, dass ich mit Professor Olearius auf der Hinterplattform eines Straßenbahnwagens zusammentraf. Er erkannte mich sofort wieder, wie ich ihn sofort erkannte und sofort wieder den alten Hass gegen ihn im Herzen spürte. Damals ging ich längst auf ein anderes Gymnasium und war löblicher Obertertianer …
Mit der alten dünkelhaften Überlegenheit wandte sich Professor Olearius, ohne die geringste Rücksicht auf die andern Fahrgäste, an mich und sprach: »Nun, du beklagenswerter Fallada? – An welcher Erziehungsanstalt bringst du jetzt unselige Lehrer ihrem Grabe näher?«
Aber ich war nicht mehr der verschüchterte Junge aus der Quinta oder Quarta. Ich hatte mittlerweile die Erfahrung gemacht, dass ich nicht dümmer war als andere und bestimmt klüger als dieser alte Pauker, für den die Welt aus lateinischen und griechischen Verben bestand. So antwortete ich ganz laut: »Ich kenne Sie nicht, und wenn ich Sie kennen würde, würde ich einen Menschen wie Sie niemals grüßen!«
Sprach’s, sah ihn bleich werden bei dieser öffentlichen Kränkung und sprang ab von der Elektrischen, Jubel über meine doch recht schülerhafte Rache im Herzen.
Aber damals war an Rache noch nicht zu denken. Jeden Morgen beim Aufwachen lag die ganze Penne mit Kameraden, Lehrern, Schularbeiten wie ein Alpdruck vor mir. Wenn ich mich irgend von ihr drücken konnte, tat ich es. Da ich sehr kränklich war und meine Eltern in steter