Mein erster Aufenthalt in Marokko und Reise südlich vom Atlas durch die Oasen Draa und Tafilet. Gerhard Rohlfs
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Wie unmanierlich ist die Art und Weise zu essen! So wie man zur Zeit Abrahams ass, so wie die Juden in Palästina, aus Einer Schüssel am Boden hockend, assen, so isst noch heute der Marokkaner. Morgens nach Sonnenaufgang wird nur saure Milch mit hineingebrocktem Brode, oder eine mässige Suppe genommen. Die zweite Mahlzeit ist gegen Mittag: Bröde d.h. eine Art von Mehlkuchen, welche auf eisernen Platten oder erhitzten Steinen gebacken sind, heisse Butter (in diese tippt man die Brodstücken und verfährt recht haushälterisch; nur die Reichen geben harte Butter) bilden dies zweite Mahl, zu dem auch wohl noch Datteln, oder im Sommer andere Früchte, wie die Jahreszeit und die Gegend sie bietet, gegeben werden. Abends nach Sonnenuntergang ist die Hauptmahlzeit, welche aus Kuskussu besteht. Aber Tag für Tag, Jahr aus Jahr ein, kommt dies Gericht auf die Erde (auf den Tisch kann ich nicht sagen, da der Marokkaner ein solches Möbel nicht kennt) und mittelst der Hand, die Marokkaner kennen noch nicht den Gebrauch der Messer und Gabeln, wird das Gericht rasch in den Magen befördert. Auch der Gebrauch der Löffel ist nicht überall eingebürgert. Am atlantischen Ocean vom Cap Spartel südlich bis nach der Mündung des Sus, vielleicht noch weiter südlich, bedienen sich sämmtliche Leute statt eines Löffels einer austerartigen Muschel, wie sie der Ocean dort an den Strand wirft. Die Männer essen getrennt von den Frauen, diese essen mit den Kindern des Hauses. Selbst bei den Berbern hat der Islam dies durchzusetzen gewusst. Oder sollten auch die Berber schon vor der Einführung des Islam ohne ihre Frauen ihre Mahlzeiten eingenommen haben? Fleisch wird von den Bewohnern auf dem Lande nur bei Gelegenheit eines Festes gegessen und auch dann nur in geringer Quantität. Wenn nicht manchmal ein Stück Wild erlegt wird, bekommt manche arme Familie oft jahrelang kein Fleisch zu sehen, und wenn nicht der Genuss von Eiern, von Butter und Milch die animalische Kost ersetzte, könnte man mit Recht sagen, die Marokkaner sind der Mehrzahl nach Vegetarianer. Der in den marokkanischen Städten so sehr beliebte Thee wird auf dem Lande nur noch bei vereinzelten Vornehmen und Reichen gefunden; das allgemeine Getränk ist Wasser. Nirgends kennt man in Marokko die Bereitung von Busa oder Lakby, d.h. ersteres ein gegohrenes Getränk aus Getreide, letzteres der den Palmen abgezapfte Saft. Es würde den Marokkanern ein grosses Verbrechen sein, eine Dattelpalme derart für das Tragen der Früchte unbrauchbar zu machen oder gar zu tödten. Ebenso ist in den marokkanischen Oasen, sowohl in den grossen wie in den kleinen, der Lackby vollkommen unbekannt, und dennoch giebt es in der ganzen Sahara keine Oasen, die sich an Palmenreichthum, und auch was die Güte der Palmen anbetrifft, mit den marokkanischen Oasen messen können. Der Gebrauch die Palmen anzuzapfen beginnt erst in den südlich von Tunesien gelegenen Oasen.
Indessen müssen wir doch auch einer guten Eigenschaft der Marokkaner gedenken, der Gastfreundschaft, welche ohne Prunk, ohne Ceremonie als etwas Selbstverständliches in Marokko überall geübt wird. In den meisten Duar, in fast allen Tschar's giebt es eigene Häuser oder Zelte, Dar und Gitun el Diaf genannt, welche für die Reisenden bestimmt sind. Der Fremde hat dagegen keinerlei Verpflichtung. Kommt er zu einem Duar und hat sich glücklich durch die kläffenden und bissigen Hunde hindurchgearbeitet, so weisen ihm die Leute nach dem Gastzelte. Man bringt Früchte, wenn sie die Jahreszeit und Gegend bietet, sonst Brod oder Datteln, und wenn Abends die Zeit des Hauptmahls ist, werden die Fremden zuerst bedient. In einigen Gegenden besteht die Sitte, dass die einzelnen Familien tageweise der Reihe nach die Fremden zu verpflegen haben, in anderen kommen Abends die Familienväter mit vollen Schüsseln in das Fremdenzelt und das Mahl wird gemeinschaftlich verzehrt. In anderen Gegenden existirt ein Gemeindefond zur Speisung der Fremden, oder eine Sauya, d.h. eine religiöse Genossenschaft besorgt dies Geschäft. Nie wird dafür irgend eine Vergütung vom Fremdling beansprucht. Im Gegentheil, wird man nicht ordentlich verpflegt, so hat man das Recht Beschwerde zu führen. Natürlich wird man bei dieser Gelegenheit von Allen über Alles ausgefragt, denn Zurückhaltung und Schweigsamkeit kennt in dieser Beziehung der Marokkaner nicht. Die grosse Gastfreundschaft erklärt sich nun zum Theil dadurch, dass sie auf Gegenseitigkeit beruht: der, welcher heute Gastgeber ist, beansprucht vielleicht am nächsten Tage von einem Anderen freie Bewirthung. Es verdient hervorgehoben zu werden, dass die arabischen Stämme bedeutend liberaler sind, als die berberischen.
Barth und von Maltzan haben ausgesprochen, dass in Nordafrika je weiter nach dem Westen, desto kriegerischer und muthiger die Bewohner seien und dass man in Marokko den grössten Sinn der Unabhängigkeit träfe. Es scheint mir dies nur in sofern richtig zu sein, als man die Eigenschaft der Freiheitsliebe, den kriegerischen Sinn stärker bei den Gebirgsvölkern ausgeprägt findet. Die Bewohner der Cyrenaica sind heute noch ebenso freiheitsdurstig und unabhängig wie die Rif-Bewohner in Marokko, bis jetzt sind sie von den Türken noch nicht vollkommen unterworfen. Die Bewohner des Gorian-Grebirges in Tripolitanien sind bedeutend kriegerischer, als die westlich davon wohnenden Stämme. Das Djurdjura-Gebirge oder die grosse Kabylie wurde zu allerletzt von den Franzosen unterworfen, nachdem schon jahrelang der ganze Westen von Algerien, d.h. die Provinz Oran unterworfen war. Endlich sind die im äussersten Westen von Marokko wohnenden Stämme, die der Schauya, Abda und Dukala die geknechtetsten von allen, und seit Jahren wissen sie nicht mehr was Freiheit und Unabhängigkeit ist.
Die Bevölkerung von Marokko hat keinen eigentlichen Adel in unserem Sinn. Die vornehmste Classe sind die Schürfa, d.h. Abkömmlinge Mohammeds, selbstverständlich sind diese arabischen Stammes. Da sie sich unglaublich vermehrt haben, giebt es ganze Ortschaften, die fast nur aus Schürfa bestehen; man erkennt sie daran, dass sie vor dem Namen das Prädicat "Sidi" oder "Mulei", d.h. "mein Herr" führen. Die gegenwärtige Dynastie von Marokko besteht aus Schürfa. Das Sherifthum ist nicht erblich durch die Frau heirathet z.B. ein gewöhnlicher Marokkaner eine Sherifa, so sind die Kinder keine Schürfa. Aber ein Sherif kann eine Frau aus jedem Stande nehmen und die aus der Ehe entspringenden Kinder werden alle Schürfa. Sogar eines Sherifs Heirath mit einer Christin oder Jüdin, (die in ihrer Religion verbleiben können) oder mit einer Negerin (eine solche muss aber den Islam angenommen haben) hat auf das Sherifthum der Kinder keinen vernichtenden Einfluss, ebenso sind die im Concubinate erzeugten Kinder vollkommen gleichberechtigt mit den in gültiger Ehe erzeugten.
Die Schürfa werden überall in Marokko als eine besonders bevorzugte Menschenclasse angesehen. Sie haben das Recht, andere Leute zu insultiren, ohne dass man mit gleichen Waffen antworten darf. Der Mohammedaner schimpft dann am stärksten, wenn er Beleidigungen auf die Vorfahren oder Eltern des zu Beschimpfenden häuft. Der Sherif darf zu einem Nicht-Sherif sagen "Allah rhinal buk" odes [oder] "Allah rhinal djeddek", "Gott verfluche deinen Vater", "Gott verfluche deinen Grossvater". Der Nicht- Sherif darf dies nicht erwidern, denn den Vorfahr oder Vater eines Nachkommen des Propheten beleidigen, wäre ein Verbrechen gegen die Religion. Er hat aber das Recht, die Person des Sherif selbst zu schimpfen, und gegen ein "Allah rhinalek" "Gott verfluche Dich" kann in einem solchen Falle als Entgegnung, der Sherif nicht klagen. Ich habe selbst oft Gelegenheit gehabt, so zu antworten; wenn in Uesan die jungen Schürfa sich darin gefielen, meinen Grossvater und Vater zu verfluchen und zu verbrennen, verbrannte und verfluchte ich sie selbst in meiner Antwort: "Allah iharkikum"—"Allah rhinalkum"28, dagegen konnten sie nichts machen. Entschieden aber glaubten sie stets einen Sieg über mich davongetragen zu haben, da ich ihren Eltern und Vorfahren nichts nachsagen durfte.
[Fußnote 28: Gott soll euch verbrennen, Gott verfluche euch!]
Die sogenannten Marabutin, heilige Personen oder Nachkommen solcher Heiligen, stehen in Marokko in bedeutend geringerem Ansehen, sie werden zu sehr von den Schürfa verdunkelt. Selbst Chefs grosser Stämme, in deren Familien seit langer Zeit Kaid oder Schichthum nebst Reichthümern und Macht erblich sind, verschwinden an der Seite der Schürfa.
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