Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen. Marcel Proust

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Marcel Proust: Gesammelte Romane & Erzählungen - Marcel Proust

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Lachen geweigert hatte, an meine guten Absichten ihr gegenüber zu glauben. Durch Assoziation brachte diese Erinnerung eine andere in mein Gedächtnis. Lange vorher war es Swann gewesen, der nicht an meine Aufrichtigkeit und gute Freundschaft zu Gilberte hatte glauben wollen. Umsonst hatte ich ihm geschrieben. Gilberte hatte mir meinen Brief wiedergebracht und mit demselben unbegreiflichen Lachen zurückgegeben. Nicht gleich hatte sie ihn mir zurückgegeben, ich erinnerte mich jetzt an die ganze Szene hinter dem Lorbeergebüsch. Man wird moralisch, sobald man unglücklich ist. Gilbertes jetzige Abneigung gegen mich kam mir vor wie eine Sühne, die mir das Leben auferlegte wegen meines Benehmens an jenem Tage. Strafen glaubt man aus dem Wege gehen zu können, da man doch bei Straßenübergängen auf die Wagen achtgibt und Gefahren vermeidet. Aber es gibt innere Gefahren. Das Unglück kommt von der Seite, an die man nicht dachte, aus dem Innern, aus dem Herzen. Gilbertes Worte: ›Wenn Sie wollen, ringen wir weiter‹, wurden mir jetzt entsetzlich. So mußte ich sie mir vorstellen, vielleicht zu Hause, in der Wäschekammer mit dem jungen Manne, den ich in ihrer Begleitung in der Avenue des Champs-Élysées gesehen hatte. Wie es vor einiger Zeit ein Wahn war, mich ganz still im Glück geborgen zu meinen, war es nun sinnlos von mir, jetzt, da ich auf das Glück verzichtet hatte, mit Sicherheit anzunehmen, ich sei wenigstens ruhig geworden und könne ruhig bleiben. Denn solange das Herz beständig das Bild eines anderen Wesens einschließt, kann nicht nur unser Glück jedweden Augenblick zerstört werden; ist dieses Glück dahin und haben wir gelitten, ist es uns dann gelungen, unser Leiden einzuschläfern, – nicht minder trügerisch und ungewiß, als das Glück selbst es war, ist dann die Ruhe. Meine kam schließlich wieder; was von einem Traum begünstigt, unsern Seelenzustand und unsere Begierden wandelt und in uns eindringt, auch das vergeht nach und nach; Beständigkeit und Dauer sind keinem Dinge zugesichert, nicht einmal dem Schmerz. Nebenbei: die, welche an der Liebe leiden, sind, wie man von gewissen Kranken sagt, ihr eigener Arzt. Da ihnen kein Trost kommen kann außer von dem Wesen, das ihren Schmerz verursacht hat und von dem er ausströmt, so finden sie schließlich in ihrem Schmerz selbst ein Heilmittel. Er verrät es ihnen im gegebenen Augenblick, denn indem sie ihn in sich hin und her wenden, zeigt er ihnen von der Person, um die sie trauern, immerfort veränderte Bilder, bald ist sie so hassenswert, daß man sie nicht einmal wiedersehen möchte (denn ehe man Lust an ihr fände, müßte man sie erst leiden machen), bald so süß, daß die Süße, die man ihr verleiht, scheinbar ihr eigenes Verdienst wird und dem Liebenden ein Grund zu hoffen. Ob aber auch der neu erwachte Schmerz sich schließlich in mir beruhigte, ich wollte nun nur noch selten zu Frau Swann gehen. Zunächst verwandelt sich bei verlassenen Liebenden das Gefühl der Erwartung – sogar der uneingestandenen Erwartung –, in der sie leben, von selbst, und obwohl es anscheinend identisch bleibt, läßt es auf den ersten Zustand einen zweiten genau entgegengesetzten folgen. Der erste war die Folge und der Reflex schmerzlicher Vorfälle, die uns aus der Fassung gebracht haben. In die Erwartung dessen, was sich nun ereignen könnte, ist Angst gemengt, zumal wir in diesem Zeitpunkt, wenn uns von der Geliebten nichts Neues geschieht, selbst handeln wollen und nicht recht wissen, welchen Erfolg ein Schritt haben wird, nach dem es vielleicht nicht mehr möglich sein dürfte, einen weiteren zu tun. Bald aber wird die dauernde Erwartung, wie wir gesehn haben, nicht mehr durch Erinnerung an die Leiden der Vergangenheit bestimmt, sondern durch Hoffnung auf eine eingebildete Zukunft. Und von da ab ist sie fast angenehm. Die erste Erwartung hat während ihrer kurzen Dauer uns daran gewöhnt, im Hoffen und Harren zu leben. Noch überlebt in uns der Schmerz, den wir bei unserm letzten Zusammensein mit der Geliebten erlitten haben, aber er ist schon eingeschlummert. Wir haben es nicht eilig, ihn zu erneuern, zumal wir nicht recht wissen, was wir jetzt verlangen sollten. Bekämen wir ein wenig mehr von der Geliebten zu besitzen, würde uns dadurch, was wir nicht besitzen, nur noch notwendiger werden, und so kämen wir trotz allem, da unsern Befriedigungen immer wieder Bedürfnisse entspringen, zu keinem Ende.

      Schließlich kam später noch ein Grund hinzu, der mich veranlaßte, meine Besuche bei Frau Swann gänzlich einzustellen. Dieser später gereifte Grund war nicht, daß ich Gilberte damals schon vergessen hatte, es war mein Versuch, sie schneller zu vergessen. Gewiß waren, seit mein großer Schmerz ein Ende genommen hatte, die Besuche bei Frau Swann für das, was mir an Traurigkeit verblieb, wieder Beruhigung und Zerstreuung geworden, wie sie im Anfang mir so wertvoll gewesen. Aber für die Nachwirkung der Beruhigung war die Zerstreuung unzuträglich, ich will damit sagen, diesen Besuchen vermischte sich innig die Erinnerung an Gilberte. Die Zerstreuung hätte mir nur nützen können, wenn sie ein Gefühl, das nicht mehr durch Gilbertes Gegenwart gespeist wurde, Gedanken, Interessen, Leidenschaften ausgesetzt hätte, in denen Gilberte keine Rolle spielte. Solche Bewußtseinszustände, denen das geliebte Wesen fern bleibt, nehmen dann einen Platz ein, der, mag er erst noch so klein sein, doch der Liebe, die die ganze Seele erfüllte, entzogen wird. Solche Gedanken muß man zu nähren und wachsen zu lassen versuchen, solange das Gefühl, das nur noch Erinnerung ist, abnimmt, so daß dann die neu in den Geist eingeführten Elemente diesem Gefühl einen immer größer werdenden Teil der Seele streitig machen, entreißen und sie ihm schließlich ganz entziehen. Mir wurde klar, daß dies die einzige Methode sei, eine Liebe zu töten, und ich war noch jung, noch mutig genug, um es zu unternehmen, und damit machte ich mir den allerbittersten Schmerz zu eigen: die Sicherheit, daß einem so etwas gelingen kann, mag man auch lange Zeit darauf verwenden müssen. Jetzt begründete ich in meinen Briefen an Gilberte meine Weigerung, sie zu sehen, mit der Anspielung auf ein – gänzlich erfundenes – geheimnisvolles Mißverständnis, das zwischen ihr und mir gespielt habe. Anfangs hoffte ich, Gilberte würde mich um eine Erklärung bitten. Aber nie wird, selbst in den unwesentlichsten Beziehungen des Lebens, jemand bei einem Briefwechsel einen Aufschluß fordern, wenn er weiß, daß eine dunkle, lügnerische, anschuldigende Wendung absichtlich ihm geschrieben wird, damit er protestiere; er ist ja viel zu glücklich, dadurch die Initiative zu behalten. In viel stärkerem Maße trifft dies für zartere Beziehungen zu, bei denen Liebe soviel Beredsamkeit, Gleichgültigkeit so wenig Neugier besitzt. Da Gilberte weder Zweifel an diesem Mißverständnis äußerte noch es kennen zu lernen versuchte, wurde es für mich etwas Wirkliches, auf das ich mich in jedem Brief bezog. Es liegt in solchen falschen Situationen, in affektierter Kälte ein Zauber, der uns darin verharren läßt. Ich schrieb ihr solange: »Seit unsere Herzen entzweit sind«, damit Gilberte antworte: »Aber sie sind es ja nicht, wir wollen uns aussprechen« –, bis ich selbst überzeugt war, daß sie entzweit seien. Und dadurch daß ich immer wiederholte: »Gewiß mag das Leben anders für uns geworden sein, aber es wird nicht das Gefühl auslöschen, das wir empfunden haben,« in dem Wunsche, endlich von ihr zu hören: »Aber es hat sich doch nichts geändert, dies Gefühl ist stärker als je« –, dadurch daß ich dies immer wiederholte, lebte ich schließlich in der Vorstellung, das Leben habe sich in der Tat geändert, und wir bewahrten die Erinnerung an ein Gefühl, das nicht mehr bestehe; so gibt es Nervöse, die eine Krankheit simulieren, bis sie sie schließlich bekommen. Jetzt vergegenwärtigte ich mir jedesmal, wenn ich an Gilberte zu schreiben hatte, die eingebildete Veränderung, die von nun an durch Schweigen, das sie über diesen Gegenstand in ihren Antworten bewahrte, unausgesprochen anerkannt wurde und zwischen uns bestehen bleiben sollte. Weiterhin hörte Gilberte einmal auf, sich mit dem bloßen Übergehen der Tatsache zu begnügen. Sie nahm selbst meinen Gesichtspunkt an, und wie in offiziellen Toasten der Chef des Staates, welcher empfangen wird, in seiner Erwiderung ungefähr dieselben Ausdrücke wiederaufnimmt, die der empfangende Staatschef gebraucht hat, verabsäumte Gilberte nicht, wenn ich schrieb: »Das Leben hat uns zu trennen vermocht, die Erinnerung an die Zeit, da wir einander kannten, wird dauern«, jedesmal zu antworten: »Das Leben hat uns zu trennen vermocht, es wird uns die guten Stunden, die uns immer teuer bleiben werden, nicht in Vergessen zu bringen vermögen.« (Wir wären beide in Verlegenheit gekommen, hätten wir angeben sollen, warum »das Leben« uns getrennt habe und welche Veränderung vorgegangen sei.) Ich litt nicht mehr allzusehr. Und doch, eines Tages, als ich ihr in einem Brief mitteilte, ich habe den Tod unserer alten Bonbonverkäuferin aus den Champs-Élysées erfahren, und die Worte schrieb: »Ich habe mir gedacht, daß Ihnen das nahegegangen ist, in mir hat es so manche Erinnerung aufgerührt«, – konnte ich mich nicht enthalten, in Tränen auszubrechen: ich merkte, daß ich in der Form der Vergangenheit und als handle es sich um einen schon fast vergessenen Toten, von dieser Liebe sprach, an die ich doch immer noch wie an etwas Lebendes oder wenigstens Wiederauflebenkönnendes gedacht hatte. Nichts Zarteres kann man sich vorstellen als diesen Briefwechsel zwischen Freunden,

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