Der Landdoktor Staffel 2 – Arztroman. Christine von Bergen
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Während Thorsten zwei Stück Torte verschlang, naschte Nicole nur von ihrem Kuchen. Das Arztehepaar wusste, warum.
»Ich habe ein schönes Häuschen für Sie gefunden«, sagte Ulrike in aufmunterndem Ton. »Es liegt in einem Wiesengrund, gar nicht weit von uns entfernt, und Sie können bleiben, so lange Sie wollen.«
Nicoles Lächeln wirkte müde. »Leider habe ich nur drei Wochen Zeit.«
Matthias lachte. »Es hat schon Gäste gegeben, die sind für immer geblieben.«
»Hier ist es auch wunderschön«, erwiderte die junge Frau mit verklärtem Blick über die blühenden Wiesen, die unterhalb der Terrasse zur Steinache sanft abfielen. In der Ferne stellten sich die Schwarzwaldhöhen hintereinander auf. Am Horizont verschwammen ihre Konturen mit dem lichten Blau des Himmels.
»Wo kommen Sie her?«, erkundigte sich Matthias.
»Aus Zürich.«
»Eigentlich stammt Nicole aus Leipzig«, fügte Thorsten hinzu. Er sah seinen Vater bedeutsam an. »Ich habe euch ja erzählt, dass Nicole Primaballerina beim Schweizer Ballett ist.«
Ja, das wusste der Landarzt. Er wusste auch, dass die Primaballerina vor ein paar Tagen einen Zusammenbruch auf der Bühne gehabt hatte. Burnout, hatte der Notarzt diagnostiziert und ihr geraten, ein paar Wochen zu pausieren.
»Da fällt mir gerade ein«, wandte sich Thorsten wieder an Nicole. »Seit einem halben Jahr gibt es im Ort ein gut sortiertes Sportgeschäft, wo du alles bekommst. Fachmännische Beratung inklusive. Falls du überhaupt Sport machen möchtest …«
Mit gequälter Miene lachte die Tänzerin auf. »Ich werde Sport machen müssen, um beweglich zu bleiben.« Dann beugte sie sich zu Ulrike hinüber und vertraute ihr mit versonnenem Lächeln an: »Ich habe aber auch ein paar Bücher im Gepäck. Um endlich einmal zu lesen.«
»Ich bin auch so eine Leseratte«, ging die Arztfrau sofort auf das Thema ein und schon erzählte sie Nicole von den Neuerscheinungen, die sie ihr ausleihen wollte.
*
Das kleine Schwarzwaldhaus mit seinem tief gezogenen Schindeldach lag wie ein Schmuckstein in einer grünen Wiese unterhalb eines Tannenwaldes. Ein in allen Farben blühender Garten gab dem Häuschen einen ganz besonderen Charme.
Von der ersten Minute an fühlte sich Nicole dort zu Hause. Ganz anders als in ihrem Apartment in der Vorstadt von Zürich. An diesem ersten Abend konnte sie von der beschaulichen Stille um sich herum und der guten Luft nicht genug bekommen. Während sie beobachtete, wie die Dämmerung aus dem Tal hinauf über die Tannenhöhen schlich, tauchte die untergehende Sonne die Bergzüge im Osten in ein dunkles Purpur. Hinter den Hügeln, am weiten Horizont, segelten einzelne lang gezogene Wolkenstreifen mit lichtem Gold gesäumt. Keine Hochhäuser, keine Telegrafenmasten, kein Flugzeuglärm, der die Ruhe der Natur gestört hätte.
Fasziniert sah die junge Frau zu, wie die Farben um sie herum verblassten. Der Mond wanderte höher. Das vielstimmige Geläut der Kuhschellen verklang, und die Steinache, die in ein paar Meter Entfernung durch die Wiesen plätscherte, schien leiser zu fließen als noch am Nachmittag.
Nicole lächelte versonnen vor sich hin.
Wie gut tat diese Ruhe, diese Idylle, ihrem ausgebrannten Körper! Für ein paar Augenblicke spürte sie keinerlei Schmerzen mehr, vergaß alle Zukunftssorgen und versank ganz im Hier und Jetzt. Sie schloss die Augen, atmete den Duft von Harz und fruchtbarer Erde tief ein, spürte den lauen Abendwind auf ihrer Haut und glaubte sogar zu spüren, dass er etwas mit sich brachte, was ihr Leben fortan für immer verändern würde.
*
Nicole begann den nächsten Tag mit zwei Tassen starkem Kaffee und einem Vitamindrink. Wie fast ihr gesamtes Leben lang. Heiko Wieland, ihr Agent, versorgte sie mit den flüssigen Nährstoffen, wie auch seine anderen ›Schäfchen‹. So nannte er all die Tänzerinnen, denen er Auftritte vermittelte. Nach dem Frühstück beschloss sie, eine Wanderung zu machen, trotz der Schmerzen im Fuß.
In einer Jeans, die ihr inzwischen auch schon zu weit war, Turnschuhen und mit einem leichten Rucksack auf dem Rücken ging sie los. Da sie sich im Ruhweiler Tal nicht auskannte, schlug sie einfach eine beliebige Richtung ein.
Mal sehen, wohin mich dieser Weg führen wird, sagte sie sich.
Seit mehr als zwanzig Jahren waren ihre Tage bestimmt vom Balletttraining, von der Planung anderer Menschen; sie hatten stets den gleichen Rhythmus. Dass sie jetzt auf sich allein gestellt war, rief ein Gefühl der Unsicherheit in ihr hervor.
Sie atmete energisch durch.
Die Luft roch nach frisch gemähtem Gras und den Blumen, die am Wegesrand standen. Brunellen, Seidelbast und Frauenschuh –, Nicole erinnerte sich wieder daran, dass ihre Großmutter ihr diese Pflanzen einst gezeigt hatte. Sie lächelte bei der Erinnerung an ihre Kindheit still vor sich hin, an die Zeit, bevor sie Ballettunterricht genommen hatte. Doch gleich darauf schüttelte sie diese Gedanken schnell ab.
Von hier oben hatte man einen traumhaften Blick auf die Häuser von Ruhweiler, auf die kleine weiße Kirche, deren goldener Wetterhahn in der Sonne blinkte.
Sie ging weiter in den Hochwald hinein. Über ihr lispelten die Blätter im Sommerwind. Im Geäst der Tannen, Fichten und Buchen sangen die Vögel um die Wette. Dazwischen erklang immer wieder das Gekrächze eines Eichelhähers, des Wächters des Waldes, der dessen Bewohner auf die einsame Wanderin aufmerksam machen wollte.
Nach einer Biegung entdeckte die junge Frau einen Holztransporter, der quer zum Wanderweg stand. Männer waren damit beschäftigt, Bäume zu fällen und Stämme aufzuladen. Als sie näher kam, löste sich einer aus der Gruppe und kam auf sie zu. Ein Mann mit dunkelbraunen Locken, von denen ihm einige verwegen in die braun gebrannte Stirn fielen. Breitbeinig blieb er vor ihr stehen, mit einem jungenhaften Lächeln in dem gut geschnittenen Gesicht. Er kam ihr vor wie ein Teil dieser wilden rauen Waldwelt.
»Grüß dich«, sagte er ganz selbstverständlich zu ihr.
»Grüß dich«, wiederholte sie seine Worte in erstauntem Ton.
»Hier kannst du nicht weitergehen«, erklärte er mit einem Lächeln, das sie sofort in seinen Bann zog. »Das wird noch ein paar Stunden dauern. Wir holzen gerade.«
Sie hob die Schultern. »Dann kehre ich halt wieder um.«
»Wohin willst du denn?«
»Ganz gleich wohin.« Sie schenkte ihm ein Lächeln. »Ich kenne die Gegend noch nicht.«
»Du solltest zur Hexenhütte wandern. Dort gibt es einen wunderschönen Ausblick und die besten Käsespätzle.«
Wie unter einem Blitz zuckte sie innerlich zusammen.
Kritisierte er mit diesem Vorschlag etwa ihre Figur?
»Dafür musst du ein Stück zurück und dann dem Schild nach«, erklärte er ihr und fügte mit strahlendem Lächeln hinzu: »Der Weg lohnt sich wirklich.«
»Danke