Gewachsen im Schatten. Annemarie Regensburger
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„Oft hab ich mir überlegt, wo die Stubenuhr und die große Weihnachtskrippe hingekommen sind. Die Weihnachtskrippe hat die Mama im Herbst vor ihrem Tod dem Rauchfangkehrer verkauft. Mit dem Geld hat sie eine neue Couch gekauft. Wir Kinder waren sehr aufgeregt, als der Nachbar mit einem Lieferauto die neue Couch gebracht hat. Im Winter haben wir zu viert in der Stube geschlafen, weil das übrige Haus kalt war. Du und ich haben hinter dem Ofen geschlafen, das Hannele und die Mama auf der neuen Couch. Das Hannele war Mamas Goldschatz. Manchmal haben auch zwei Nachbarmädchen mit mir hinter dem Ofen schlafen dürfen. Dann bist du auf der Ofenbank gelegen. Ich hab noch eine Erinnerung, wie die Mama in der Früh nach der Stallarbeit in die Stube kommt und ruft: ‚Was sell ih enk hein kochn?‘ ‚Powidltatschgerln‘, haben wir gesagt. Die Mama hat immer gekocht, was wir Kinder gern mögen haben.“
„Wo die Stubenuhr hingekommen ist, weiß ich auch nicht. Tagelang war Tür und Tor offen. Die zirbenen Möbel hat mein Onkel für mich aufbewahrt. Etwas von den übrigen Möbeln hat die Bäuerin geholt, zu der du gekommen bist. Es hat dann ungefähr drei Wochen gedauert, bis der Onkel das Vieh verkaufen können hat.“
„Was hab ich mich für die Mama geschämt! Beim Abladen der Möbel und des Hausrats hat die Bäuerin ihre Schwester am Arm gezupft, eigenartig gelacht und gesagt: ‚Ament isch se gar nouh unwohl gwesn! Siechsch dejs roate Tuech!‘ Aber es waren nur Preiselbeeren. Ich hab noch nicht gewusst, was Unwohlsein bedeutet. Kurz darauf war mir mehr als unwohl. Alles war anders. Aus mit den Träumen.“
Im Herbst vor Mamas Tod gibt es noch einmal ein legendäres Fest bei der Maisernte, das „Türkenausmachen“, von dem die Leute noch Jahre nach ihrem Tod reden! Die Hauptarbeit auf dem Feld ist für ein Jahr getan. Das wird gefeiert. Tage vorher beginnen die Vorbereitungen. Im Heustadel werden Tische und Bänke gerichtet. Die Maiskolben, bereits von den dicken Stängeln abgetrennt, liegen in großen Haufen am Stadelboden. Die Stube wird von der Mama ebenfalls ausgeräumt. Beide Tische kommen in die hintere Kammer. Ein großer Tanzboden tut sich auf. Die Mama bäckt Streuselkuchen, schneidet Speck und Brot auf. Aus der Vorratskammer wird der große Kochkessel geholt und mit Wein gefüllt. Den Wein bekommt sie von ihrer Schwester, der Wirtin. Mit Arbeitshilfe im Gasthaus dient Mama den Wein ab. Sie schüttet einen Kübel mit Wasser zum Wein und sagt lachend: „Nit z’starch sell der Glühwein wearn, siesch kriegn se alle an Rausch!“ Das Kind weiß noch nicht, was ein Rausch ist. Die Mama gibt Zucker, Zimtrinden und Nelken dazu. Das ganze Haus duftet.
An diesem Tag geht die Mama etwas früher in den Stall. Das Kind mistet bei den Kühen aus. Es kann nun selber mit dem Schubkarren voll Mist zum Misthaufen radeln und den Mist dort auskippen. Den Schweinestall ausmisten mag das Kind nicht so gern. Es hat ein bisschen vor den großen Schweinen Angst und der Schweinemist stinkt sehr. Die große Schwester hilft der Mama beim Melken. ’s Hannele ist heute zum Küchenputzen an der Reihe. Eine eigenartige, erwartungsvolle Stimmung ist im Stall.
Nach der Stallarbeit noch schnell sich waschen, dann kommen bereits die ersten Nachbarn. Sie werden von der Mama mit lautstarken Sprüchen begrüßt. Gelächter. Bald ist der Stadel voll mit Leuten, Reden und Lachen. Einige Nachbarskinder sind zum Helfen mitgekommen. Die Kinder teilen sich ihre Arbeitsplätze auf; ihre Aufgabe ist es, den Erwachsenen die Maiskolben auf die Bänke zu legen und die „ausgemachten“ Kolben wieder ordentlich aufzuschlichten. Jedes Kind hat mindestens vier Erwachsene zu versorgen. Bei hereinbrechender Dunkelheit wird das Licht eingeschaltet. Endlich gibt es elektrisches Licht sogar im Heustadel.
Das Kind gabelt Wortfetzen auf: „Dear war ouh gscheider still!“, „Hein nouh a Nazi“, „Hat sigs alm schue derrichtet“. Es versteht die Zusammenhänge nicht. Allmählich sickert durch den immer größer werdenden Berg „ausgemachter“ Maiskolben vergangenes Dorfleben durch, so als ob die Tätigkeit des „Türkenausmachens“ die Zunge leichter zum Reden brächte. Oder sind es die Jahre, die inzwischen vergangen sind, oder die lockere Stimmung bei der Mama im Heustadel?
Im Nachbarhaus lebten „Schwarz“ und „Braun“ unter demselben Dach. Der Sohn einer Familie meldete sich noch vor Kriegsbeginn freiwillig zum Kriegsdienst. Sofort nach dem „Anschluss“ wehten bei zwei Familien die Hakenkreuzfahnen im Wind. Sogar für die Frau im mittleren Teil des Hauses war eine Fahne vorbereitet. „In Gottes Namen“ hängte sie die Fahne zum Fenster hinaus – sie war Witwe und ihre Söhne alle im wehrpflichtigen Alter. Noch tagelang sagte sie vor sich hin: „Jetzt gibt es wieder Krieg!“ Gut konnte sie sich noch an den Ersten Weltkrieg erinnern, an das Warten, Heimkehren, Gefallensein.
Einer ihrer Söhne war knapp vor dem „Anschluss“ zu einer Tanzveranstaltung im benachbarten Weiler gegangen. Im Laufe des Abends war der Einfluss von außen, der längst in die hintersten Winkel des Dorfes gekommen war, zu hören. Deutschnationale Lieder und der Hitlergruß wurden mit zunehmendem Alkoholgenuss eifrig geprobt. Noch war die Partei verboten, doch das Denken hatte sich Raum geschaffen. Oder war es immer schon da, drängte es nur jetzt ans Licht? Der Sohn schlich sich davon. Am nächsten Tag horchten ihn die Gendarmen aus. Er wusste von nichts; Verrat im eigenen Dorf musste erst langsam eingeübt werden.
Die Mutter hatte ihren Söhnen bereits eingeschärft, sich jedes Wort genau zu überlegen; ein Wort zu viel konnte die Front bedeuten. Keiner ihrer Söhne rückte freiwillig ein. Verändert kamen alle wieder zurück, mussten wieder miteinander unter einem Dach leben.
Viele von den Heimgekehrten arbeiteten wieder auf den Klosterfeldern. Die anderen waren im Feld gefallen, wie der Tod im Krieg umschrieben wurde. Auch ein Bruder von der Mama ist gefallen. Das Kind versteht lange nicht, was „gefallen“ bedeutet. Nach dem Krieg marschieren viele der Heimkehrer als Mitglieder der Musikkapelle am Kriegergedenksonntag zum Kriegerdenkmal. Gemeinsam blasen sie den Marsch „Ich hatt’ einen Kameraden, einen bessern findst du nicht“. Ein Bruder von der Mama, der am Ende des Krieges die wichtigste Funktion im Dorf ausübte, schlägt die große Trommel. Die Frauen und Kinder beten den Rosenkranz.
Das Kind, das Mädchen, ja sogar noch die junge Frau wird jedes Jahr beim Gang zum Soldatenfriedhof weinen müssen. Wegen der zu Herzen gehenden Töne? Wegen Mamas frühem Tod? Viele Frauen, alte und junge, schluchzen ebenfalls noch viele Jahre nach dem Krieg.
Im Heustadel ist die gute Stimmung verflogen. Doch die Mama erzählt einen Witz und sagt mit Nachdruck: „Gnueg fiar hein!“
Das Machtwort der Mama leitet über zum gemütlichen Ausklang des Abends. Das Kind und das Hannele bekommen ein Stück Streuselkuchen und ein Glas Johannisbeersaft. Heute dürfen sie im braunen Zimmer im oberen Stock schlafen. Am nächsten Morgen erzählen die große Schwester und die Mama immer noch lachend, dass die Nachbarn und Nachbarinnen fast nicht zum Heimbringen waren.
Muttertag! Das Kind hat in der Schule ein Muttertagsgedicht gelernt. Den Frühstückstisch richten, den am Vorabend gepflückten Vergissmeinnichtstrauß hinstellen. Die Mama ist baff, als sie endlich vom Stall hereinkommt und den Stubentisch sieht. Das Kind sagt der Mama mit seiner tiefen Stimme das Gedicht auf. Der Mama kommen die Tränen. Sie drückt das Kind an sich, streicht ihm über den Kopf. Später wird sich das Mädchen oft an diese Zärtlichkeit erinnern, wenn es in der Kammer bei der Bäuerin das Sterbebild der Mama hervorholt – das Einzige, was ihr von der Mama geblieben ist. Das Muttertagsgedicht ist dem Mädchen durch den Schock aus dem Gedächtnis entschwunden. Auf das Gedicht am Sterbebild werden die Tränen tropfen.
Sie ging voran