Karin Bucha Paket 1 – Liebesroman. Karin Bucha
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Ein Schreck zuckt ihr zum Herzen. Hat sie auch die Wahrheit gesagt? Hat Doktor Romberg sich nicht nur für den Schädelbasisbruch interessiert? Aber das Röntgenbild hat er genau studiert.
Der Professor wiegt den Kopf hin und her.
»Ich verstehe das alles nicht.« Er richtet jetzt das Wort direkt an sie. »Stücker war der Mann meines Patenkindes Christiana Stücker. Ich glaube, ich muß Ihnen erklären, daß Christia-nas Vater und ich gute Freunde waren. Frau Stückers Mutter ist eine durch und durch ehrenhafte Frau, aber ihren Kindern gegenüber sehr schwach. Deshalb habe ich mich auch ihres Sohnes Martin angenommen. Er ist begabt.«
»Leider aber sehr leichtsinnig«, unterbricht sie ihn bitter. »Er erlaubt sich Sachen als Arzt, die nicht geschehen dürfen.«
Interessiert neigt der Professor sich vor. »Was wollen Sie damit sagen?«
Sybilla nimmt allen Mut zusammen und erwidert tapfer: »An jenem Abend kam er betrunken in das Krankenhaus.
Er hätte um zweiundzwanzig Uhr seinen Dienst antreten müssen.«
»Er ist – betrunken – zum Dienst gekommen?« wiederholt Becker ungläubig. »Aber – aber das weiß ich doch gar nicht. Man hätte es mir melden müssen, dann hätte ich ihm die Leviten gelesen.«
Als sie schweigt, spricht Becker beunruhigt weiter: »Wenn Freytag auch sozusagen unter meinem Schutz steht, Unkorrektheiten lasse ich auch bei ihm nicht durchgehen.«
»Wer sollte es Ihnen wohl sagen?« Sie spricht jetzt im Namen aller Kollegen. »Alle sind der Meinung, Sie würden Doktor Freytag schützen.«
»Unsinn«, unterbricht er sie grob. »Sind wir hier in einem Kindergarten oder in einem Krankenhaus? Muß hier nicht jeder seine Pflicht tun und die Arbeit über das eigene Ich stellen?«
Mit Bewunderung sieht Sybilla ihn an. »Das haben alle getan, getreu Ihrem Vorbild, Herr Professor, nur…«
Sie stockt, und Becker fährt grimmig fort: »Nur Doktor Freytag hat eine Ausnahme gemacht. Nicht wahr, das wollten Sie doch sagen?«
»So ähnlich«, gibt sie kleinlaut zu.
»Unbegreiflich – unbegreiflich«, murmelt er vor sich hin. Nach einer Weile hebt er den Kopf. Das Licht fällt direkt auf seine Brillengläser und wirft es grell zurück, so daß Sybilla vorübergehend die Augen schließt. »Jetzt werde ich der Angelegenheit nachgehen. Vielleicht ist Doktor Romberg doch nicht so schuldig.«
»Vielleicht sagen Sie? Überhaupt nicht«, verteidigt sie den Kollegen heftig, was Professor Becker zu einem kleinen Lächeln reizt. Sie findet ihn so noch viel sympathischer.
»Sie setzen sich sehr warm für Romberg ein«, meint er mit einem kleinen spöttischen Unterton. »Na ja, man sieht Sie ja auch immer zusammen.«
Sybilla richtet sich steif auf. »Nicht mehr, als es unser Dienst verlangt«, widerspricht sie, und jetzt sind ihre Züge verschlossen und ablehnend. Sie steht auf, streicht unschlüssig ihre Hände an ihrem Kittel hinab.
Mit unverhohlener Bewunderung betrachtet er sie. Beide sind sie tüchtig in ihrem Fach, und ihr häufiges Zusammensein hat er zuerst für gemeinsames berufliches Interesse gehalten. Jetzt sieht er tiefer. Wie sie in dieser hilflosen Haltung vor ihm steht, ist sie nicht die zielbewußte Ärztin, sondern eine liebende Frau, die ihre wahren Gefühle nicht einmal zu verbergen versteht, weil sie aller Wahrscheinlichkeit nach sich selbst nicht genau über ihre Gefühle klar ist.
Kann man eine liebende Frau ernst nehmen? überlegt er. Aber auf der anderen Seite gibt es keinen Grund, seinen Schützling Martin zu belasten. Dazu hält er eigentlich beide für zu fair, diese in diesem Augenblick sehr jung und anmutig aussehende Ärztin und den Oberarzt, der ein Arbeitstier und sein bester Mitarbeiter ist.
Was hat Martin mit diesen recht unklaren Andeutungen bezweckt? Und warum hat Christiana ihn mit den heftigsten Vorwürfen überschüttet, weil er sich nicht selbst um ihren schwerverletzten Mann gekümmert hat?
Überhaupt Christiana! Sie hat doch mit Stücker, von dem man sich erzählte, daß er mehr als eine Nebenfrau hätte, keine besonders harmonische Ehe geführt. Wenn es zwischen ihnen auch nicht gerade zu heftigen Szenen gekommen ist, dann nur deshalb, weil in dieser Ehe jeder getan hat, was er wollte.
Und dann dieses Theater? Ja, sie hat ihm Theater vorgemacht! Ganz klar und sachlich beurteilt er alles. Er hätte sich längst damit eingehend befassen und nicht den Eingebungen Martins und Christianas ein offenes Ohr schenken sollen.
Er sieht plötzlich alt und müde aus. Er hat nicht geheiratet, war immer nur mit seinem Beruf verheiratet. Er hat keinen Sohn, der sein Nachfolger werden könnte. Er hat gehofft, Martin würde einst diese Nachfolge antreten.
Jetzt zweifelt er plötzlich! Unsicher blickt er zu Sybilla auf, die unschlüssig verharrt.
»Wann tritt Doktor Freytag seinen Dienst an?« erkundigt er sich und gibt sich nach außen hin ruhig und gelassen.
»Heute morgen um sechs Uhr.«
»Danke! » Professor Becker erhebt sich. »Ich verlasse jetzt das Haus. Schwere Fälle werden kaum eingeliefert werden. Und wenn, dann ist ja Doktor Romberg da, und Sie werden assistieren.«
Sybilla fühlt, wie es ihr heiß in die Wangen steigt. Das ist der alte Ton, den sie so schmerzlich an ihm vermißt hat. Sie hört immer nur: Doktor Romberg ist da. Das bedeutet, daß er ihm vertraut.
»Danke, Herr Professor«, stammelt sie, und Becker betrachtet sie nicht ohne Belustigung.
»Liegt gar keine Ursache vor.« Er schmunzelt. »Es sei denn, Sie freuen sich, daß Ihrem Herzallerliebsten kein Haar gekrümmt wird.«
»Aber – aber, Herr Professor!« Sybilla möchte vor Scham in die Erde sinken: Er hat sie durchschaut. Er weiß, daß sie Romberg mit der ganzen Glut ihres leidenschaftlichen Herzens liebt.
Wie ein Vater, gütig, wohlwollend, legt er seine Hand auf ihre Schulter. »Habe ich an etwas gerührt, dessen Sie sich selbst noch nicht richtig bewußt geworden sind? Sagen Sie dem Romberg, er sei ein ausgemachter Esel. Natürlich betrifft das sein Privatleben. Ich möchte nicht noch einmal falsch verstanden werden.«
Hilflos öffnet und schließt sie den Mund und stolpert beinahe zur Tür, die ihr der Professor galant öffnet.
Wie eine Traumwandlerin geht sie den Weg zurück zu Doktor Romberg. Bei ihrem Eintritt hebt sie ein wenig den Kopf. Gramzerfurcht sind seine Züge, und der bittere Zug um den Mund tritt deutlicher denn je hervor.
»Ich war bei Professor Becker«, springt es ihr übergangslos von den Lippen.
Er sieht sie zunächst an, als begreife er nicht. Dann geht ein Zucken über sein Gesicht. »Soo?« fragt er unbeeindruckt. »Hat er Sie zu sich gerufen?«
»Nein, ich habe ihn aufgesucht, weil – weil…« Sie kommt ins Stottern und streicht sich über die brennenden Augen.
»Was hat er denn gesagt?«
Die Gleichgültigkeit schmerzt Sybilla tief. Ist es schon soweit mit ihm, daß ihn alles nicht mehr stört? Selbst ein Urteil des Professors?