Jeremias: Eine dramatische Dichtung in neun Bildern. Стефан Цвейг
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Hörst du ... hörest du nicht, es rauschet, es rauschet schon nah ...
DIE MUTTER:
Nichts höre ich! Es morgent. Hirtenflöten wachten im Tal, und ein klein Wind umspielet das Dach.
JEREMIAS:
Ein klein Wind?
Wehe, wehe!
Gewaltigen Rauschens
Wächst er empor,
Sturmwind von Gott.
Aus dem Geklüfte
Der Mitternacht
Kommt er gefahren,
Schrecknis schwingt er
Über die Stadt.
Mutter! Mutter! Hörst du es nicht:
Schwert klirrt im Wind,
Räder rollt die rauschende Welle,
Lanze blinkt und Harnisch die Nacht,
Krieger und Krieger, unendliche Scharen
Schüttet der Sturmwind über das Land.
DIE MUTTER:
Wahnwitz von Träumen! Wirrnis und Trug!
JEREMIAS:
Es nahet, es nahet,
Fremd Volk,
Mächtig und alt
Aus dem Osten der Erde,
Unendliche Fülle
Rauschen sie an,
Wie Blitz fliegen weit ihre windigen Pfeile,
Ihre Rosse sind alle mit Eile behufet,
Ihre Wagen starr wie die Felsen geschient.
Und inmitten ausfähret
Mit blutiger Krone
Der Stürzer der Städte,
Der Zünder der Brände,
Der Zwingherr der Völker,
Der König, der König von Mitternacht.
DIE MUTTER:
Der König von Mitternacht ... Du träumest ... der König von Mitternacht.
JEREMIAS:
Den Er erweckte,
Den Er erwählte,
Als harten Vollstrecker
Härtesten Spruchs,
Daß er strieme das Volk um all seiner Fehle,
Daß er mahle die Mauer und berste die Türme,
Daß er lösche das Licht und das Lachen der Häuser,
Daß er tilge die Stadt und den Tempel von Erden
Und pflüge die Straßen Jerusalems.
DIE MUTTER:
Irrwitz und Frevel! Ewig währet Jerusalem!
JEREMIAS:
Es fällt!
Was Gott berennet,
Hat nicht Bestand!
Von untenher
Werden dorren seine Wurzeln,
Und von obenher
Geschnitten seine Frucht!
Mit der Axt und dem Brande
Wird der Reisige roden
Israels Forst und Zions Gefild.
DIE MUTTER (ausbrechend):
Es ist nicht wahr!
Du lügst! Du lügst!
Nie wird ein Feind diese Stadt umwallen,
Nie Zion zittern, nie Davids Burg fallen!
Und wenn der Feind von den Enden der Erde käm,
Ewig werden die ragenden Mauern,
Ewig die Herzen Israels dauern,
Ewig währet Jerusalem!
JEREMIAS:
Es stürzet! Gebrochen ist der Stab und gezeichnet die Stunde! Das Ende nahet, Israels Ende!
DIE MUTTER:
Gottesleugner! Gottesleugner! Des Herrn Erwählte sind wir und werden dauern über die Zeiten! Nie vergehet Jerusalem!
JEREMIAS:
Ich habe es geschauet in meinen Träumen, offenbar ward es meinen Gesichten!
DIE MUTTER:
Frevler, wer so träumet, und Frevler siebenfach, wer glaubt solchen Träumen! Wehe, wehe, daß ichs erlebe, mein eigen Blut zaget an Zion und zweifelt des Herrn! Jeremias, Jeremias, willst du, daß mir zum Abscheu werde mein Schoß?
JEREMIAS:
Wider Willen kam mir das Grauen, nicht vermag ich zu wehren den Gesichten.
DIE MUTTER:
Halte dich wach im Gebet wider sie, und an dem Namen des Herrn zerschellet ihr Trug. Jeremias, besinne dich: eines Gesalbten Sohn bist du und geweiht, daß deine Stimme lobsinge dem Herrn, daß sie erhebe die Herzen der Zagenden und mit Mut fülle der Verstöreten Sinn!
JEREMIAS:
Wie kann ichs, wie kann ichs! Selbst bin ich der Verstörteste aller! Laß ab von mir, Mutter, laß ab!
DIE MUTTER:
Ich lasse nicht dein und nicht deine Seele dem Zweifel. Jeremias, mein einzig Kind, höre mich an! Geheimes künde ich dir zum erstenmal, daß erwache dein Herz. Höre mich, die ich zu dir rede aus meiner Not. Auch ich war eine Verzagete einst, denn zehen Jahre verschloß der Herr meinen Schoß. Spott ward ich den Gefährtinnen und der Kebsen Gelächter. Zehen Jahre trug ich es duldend und zagete schon, aber im elften entbrannte mein Herz, und ich ging in Gottes Haus, daß Er Frucht schenke meinem Schoß.
JEREMIAS:
Zum erstenmal kündest du dies ... zum erstenmal.
DIE