Gesammelte Werke von Gottfried Keller. Готфрид Келлер
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Gesammelte Werke von Gottfried Keller - Готфрид Келлер страница 17
Der Mensch rechnet immer das, was ihm fehlt, dem Schicksale doppelt so hoch an als das, was er wirklich besitzt; so haben mich auch die langen Erzählungen der Mutter immer mehr mit Sehnsucht und Heimweh nach meinem Vater erfüllt, welchen ich nicht mehr gekannt habe. Meine deutlichste Erinnerung an ihn fällt sonderbarerweise um ein volles Jahr vor seinem Tode zurück, auf einen einzelnen schönen Augenblick, wo er an einem Sonntagabend auf dem Felde mich auf den Armen trug, eine Kartoffelstaude aus der Erde zog und mir die anschwellenden Knollen zeigte, schon bestrebt, Erkenntnis und Dankbarkeit gegen den Schöpfer in mir zu erwecken. Ich sehe noch jetzt das grüne Kleid und die schimmernden Metallknöpfe zunächst meinen Wangen und seine glänzenden Augen, in welche ich verwundert sah von der grünen Staude weg, die er hoch in die Luft hielt. Meine Mutter rühmte mir nachher oft, wie sehr sie und die begleitenden Mägde erbaut gewesen seien von seinen schönen Reden. Aus noch früheren Tagen ist mir seine Erscheinung ebenfalls geblieben durch die befremdliche Überraschung des vollen Waffenschmuckes, in welchem er eines Morgens Abschied nahm, um mehrtägigen Übungen beizuwohnen; da er ein Schütze war, so ist auch dies Bild mit der lieben grünen Farbe und mit heiterm Metallglanze für mich ein und dasselbe geworden. Aus seiner letzten Zeit aber habe ich nur noch einen verworrenen Eindruck behalten, und besonders seine Gesichtszüge sind mir nicht mehr erinnerlich.
Wenn ich bedenke, wie heiß treue Eltern auch an ihren ungeratensten Kindern hangen und dieselben nie aus ihrem Herzen verbannen können, so finde ich es höchst unnatürlich, wenn sogenannte brave Leute ihre Erzeuger verlassen und preisgeben, weil dieselben schlecht sind und in der Schande leben, und ich preise die Liebe eines Kindes, welches einen zerlumpten und verachteten Vater nicht verläßt und verleugnet, und begreife das unendliche, aber erhabene Weh einer Tochter, welche ihrer verbrecherischen Mutter noch auf dem Schafotte beisteht. Ich weiß daher nicht, ob es aristokratisch genannt werden kann, wenn ich mich doppelt glücklich fühle, von ehrenvollen und geachteten Eltern abzustammen, und wenn ich vor Freude errötete, als ich, herangewachsen, zum ersten Male meine bürgerlichen Rechte ausübte in bewegter Zeit und in Versammlungen mancher bejahrte Mann zu mir herantrat, mir die Hand schüttelte und sagte, er sei ein Freund meines Vaters gewesen und er freue sich, mich auch auf dem Platze erscheinen zu sehen; als dann noch mehrere kamen und jeder den »Mann« gekannt haben und hoffen wollte, ich werde ihm würdig nachfolgen. Ich kann mich nicht enthalten, sosehr ich die Torheit einsehe, oft Luftschlösser zu bauen und zu berechnen, wie es mit mir gekommen wäre, wenn mein Vater gelebt hätte, und wie mir die Welt in ihrer Kraftfülle von frühester Jugend an zugänglich gewesen wäre; jeden Tag hätte mich der treffliche Mann weitergeführt und würde seine zweite Jugend in mir verlebt haben. Wie mir das Zusammenleben zwischen Brüdern ebenso fremd als beneidenswert ist und ich nicht begreife, wie solche meistens auseinanderweichen und ihre Freundschaft außerwärts suchen, so erscheint mir auch, ungeachtet ich es täglich sehe, das Verhältnis zwischen einem Vater und einem erwachsenen Sohne um so neuer, unbegreiflicher und glückseliger, als ich Mühe habe, mir dasselbe auszumalen und das nie Erlebte zu vergegenwärtigen.
So aber muß ich mich darauf beschränken, je mehr ich zum Manne werde und meinem Schicksale entgegenschreite, mich zusammenzufassen und in der Tiefe meiner Seele still zu bedenken Wie würde er nun an deiner Stelle handeln, oder was würde er von deinem Tun urteilen, wenn er lebte? Er ist vor der Mittagshöhe seines Lebens zurückgetreten in das unerforschliche All und hat die überkommene goldene Lebensschnur, deren Anfang niemand kennt, in meinen schwachen Händen zurückgelassen, und es bleibt mir nur übrig, sie mit Ehren an die dunkle Zukunft zu knüpfen oder vielleicht für immer zu zerreißen, wenn auch ich sterben werde. – Nach vielen Jahren hat meine Mutter, nach langen Zwischenräumen, wiederholt geträumt, der Vater sei plötzlich von einer langen Reise aus weiter Ferne, Glück und Freude bringend, zurückgekehrt, und sie erzählte es jedesmal am Morgen, um darauf in tiefes Nachdenken und in Erinnerungen zu versinken, während ich, von einem heiligen Schauer durchweht, mir vorzustellen suchte, mit welchen Blicken mich der teuere Mann ansehen und wie es unmittelbar werden würde, wenn er wirklich eines Tages so erschiene.
Je dunkler die Ahnung ist, welche ich von seiner äußeren Erscheinung in mir trage, desto heller und klarer hat sich ein Bild seines innern Wesens vor mir aufgebaut, und dies edle Bild ist für mich ein Teil des großen Unendlichen geworden, auf welches mich meine letzten Gedanken zurückführen und unter dessen Obhut ich zu wandeln glaube.
Fünftes Kapitel
Die erste Zeit nach dem Tode meines Vaters war für seine Witwe eine schwere Zeit der Trauer und Sorge. Seine ganze Verlassenschaft befand sich im Zustande des vollen Umschwunges und erforderte weitläufige Verhandlungen, um sie ins reine zu bringen. Eingegangene Verträge waren mitten in ihrer Erfüllung abgebrochen, Unternehmungen gehemmt, große laufende Rechnungen zu bezahlen und solche einzuziehen an allen Ecken und Enden, Vorräte von Baustoffen mußten mit Verlust verkauft werden, und es war zweifelhaft, ob bei der augenblicklichen Lage der Verhältnisse auch nur ein Pfennig übrig bleiben würde, wovon die bekümmerte Frau leben sollte. Ge-richtsmänner kamen, legten Siegel an und lösten sie wieder; die Freunde des Verstorbenen und zahlreiche Geschäftsleute gingen ab und zu, halfen und ordneten; es wurde durchgesehen, ge rechnet, abgesondert, gesteigert. Käufer und neue Unternehmer meldeten sich, suchten die Summen herunterzudrücken oder mehr in Beschlag zu nehmen, als ihnen gebührte, es war ein Geräusch und eine Spannung, daß meine Mutter, welche immer mit wachsamen Augen dabeistand, zuletzt nicht mehr wußte, wie sie sich helfen sollte. Allmählich klärte sich die Verwirrung auf, ein Geschäft um das andere war abgetan, alle Verbindlichkeiten gelöst und die Forderungen gesichert, und es zeigte sich nun, daß das Haus, in welchem wir zuletzt wohnten, als einziges Vermögen übrigblieb. Es war ein altes hohes Gebäude, mit vielen Räumen und von unten bis oben bewohnt wie ein Bienenkorb. Der Vater hatte es gekauft in der Absicht, ein neues an dessen Stelle zu setzen; da es aber von altertümlicher Bauart war und an Türen und Fenstern viele schöne Überbleibsel künstlicher Arbeit trug, so konnte er sich schwer entschließen, es einzureißen, und bewohnte es indessen nebst einer Anzahl von Mietsleuten. Auf diesem Hause blieben zwar noch einige fremde Kapitalien ruhen, jedoch hatte es der rührige Mann in der Schnelligkeit so gut eingerichtet und vermietet, daß ein jährlicher Überschuß an Mietgeldern meiner Mutter ein bescheidenes Auskommen sicherte. Die alte Wohnung ist seither unverändert geblieben, wie er sie verlassen hat, und wir haben darin gelebt bis auf diesen Tag, und eine einzige Geschäftsidee des früh Verstorbenen hat hingereicht, seinen Hinterlassenen das Brot zu verschaffen, dessen sie bis jetzt bedurften.
Das erste, was meine Mutter begann, war eine