Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский

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Gesammelte Werke von Dostojewski - Федор Достоевский

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und wechselte mit ihm nur eine stumme Verneigung. Aber als er bereits die letzten Stufen hinabstieg, hörte er hinter sich eilige Schritte; es wollte ihn jemand einholen. Es war Polenjka; sie kam ihm nachgelaufen und rief:

      »Bitte, hören Sie! Bitte, hören Sie!«

      Er drehte sich zu ihr um. Sie kam die letzte Treppe herabgelaufen und blieb dicht vor ihm stehen, eine Stufe höher als er. Es war dunkel, und nur ein schwacher Lichtschimmer drang vom Hofe herein. Raskolnikow konnte das magere, aber liebliche Gesichtchen der Kleinen unterscheiden, die ihm zulächelte und ihn mit kindlicher Fröhlichkeit anblickte. Sie kam mit einem Auftrage, der offenbar ihr selbst große Freude machte.

      »Bitte, sagen Sie doch, wie Sie heißen, und auch, wo Sie wohnen!« sagte sie eilig und fast außer Atem.

      Er legte ihr beide Hände auf die Schultern und blickte sie mit einer Art von Glücksgefühl an. Es war ihm ein solches Vergnügen, sie anzusehen, obwohl er sich selbst über den Grund nicht klar war.

      »Wer hat dich denn geschickt?«

      »Meine Schwester Sonja«, antwortete das Mädchen und lächelte noch fröhlicher.

      »Das habe ich mir gedacht, daß dich deine Schwester Sonja geschickt hat.«

      »Mama hat mich auch geschickt. Als Sonja mich schickte, kam Mama auch heran und sagte: ›Lauf recht schnell, Polenjka.‹«

      »Du hast wohl deine Schwester Sonja recht lieb?«

      »Ja, die habe ich am liebsten von allen!« antwortete Polenjka mit großer Bestimmtheit, und ihr Lächeln wurde auf einmal ernster.

      »Wirst du mich auch lieb haben?«

      Er erhielt keine Antwort; aber er sah, wie das Gesichtchen der Kleinen sich ihm näherte und die weichen Lippen sich harmlos spitzten, um ihn zu küssen. Ihre Arme, die so dünn waren wie Streichhölzchen, umschlangen ihn auf einmal ganz eng, ihr Kopf neigte sich gegen seine Schulter, und das Kind begann leise zu weinen und schmiegte sich mit dem Gesichte immer fester an ihn.

      »Unser lieber Papa tut mir so leid!« sagte sie nach einer kleinen Weile, indem sie ihr verweintes Gesichtchen in die Höhe hob und sich mit den Händen die Tränen abwischte. »Es hat uns jetzt ein Unglück nach dem andern betroffen«, fügte sie unvermittelt hinzu; mit der eigentümlich ernsten Miene, welche Kinder mit besonderer Bemühung annehmen, wenn sie »wie die Großen« reden wollen.

      »Hat denn dein Papa euch auch lieb gehabt?«

      »Unsre Lida hat er am meisten von uns allen lieb gehabt«, fuhr sie sehr ernsthaft und ohne zu lächeln fort; sie redete nun schon ganz wie die Großen, »die hatte er am meisten lieb, weil sie noch so klein ist, und dann auch, weil sie so oft krank ist, und er brachte ihr immer etwas zum Naschen mit, und uns hat er lesen gelehrt und mich auch Grammatik und Religion«, fügte sie mit Selbstbewußtsein hinzu. »Mama hat nichts dazu gesagt; aber wir wußten doch, daß sie es gern hatte, und Papa wußte es auch. Mama will mich jetzt im Französischen unterrichten, weil es für mich Zeit ist, daß ich eine gute Bildung erhalte.«

      »Könnt ihr denn auch beten?«

      »Oh, gewiß können wir das! Schon lange. Ich bete, weil ich schon groß bin, für mich allein; aber Nikolai und Lida beten laut mit Mama zusammen. Erst sagen sie das Gebet an die Muttergottes, und dann noch ein Gebet: ›Lieber Gott, verzeihe unsrer Schwester Sonja und segne sie‹, und dann noch eins: ›Lieber Gott, verzeihe unserm zweiten Papa und segne ihn‹; denn unser erster Papa ist schon tot, und dieser ist unser zweiter; aber wir beten auch für ihn.«

      »Polenjka, ich heiße Rodion; betet manchmal auch für mich. Ihr braucht nur hinzuzufügen: ›und deinem Knechte Rodion‹, weiter nichts.«

      »Mein ganzes künftiges Leben lang werde ich für Sie beten«, sagte die Kleine eifrig, und nun lächelte sie auf einmal wieder, fiel ihm noch einmal um den Hals und umarmte ihn innig.

      Raskolnikow sagte ihr seinen Namen, gab ihr seine Wohnung an und versprach, morgen bestimmt wieder mit heranzukommen. Ganz entzückt über ihn ging das kleine Mädchen wieder nach oben. Es war zwischen zehn und elf Uhr, als er auf die Straße hinaustrat. Fünf Minuten darauf stand er auf der Brücke, genau auf derselben Stelle, wo sich kurz vorher die Frau ins Wasser gestürzt hatte.

      ›Nun genug!‹ sagte er sich entschlossen und feierlich. ›Weg mit den Wahnbildern, weg mit der leeren Beängstigung, weg mit all diesen Gespenstern! … Es gibt noch für mich ein Leben! Oder habe ich nicht soeben ein Stück Leben durchgekostet? Mein Leben ist noch nicht mit dem der alten Frau zusammen zerstört und vernichtet! Gott schenke ihr das Himmelreich – und nun genug mit dir, Mütterchen; es ist Zeit, daß du zur Ruhe kommst! Jetzt beginnt die Herrschaft der Vernunft und des Lichtes … und des Willens und der Kraft … Und nun wollen wir einmal sehen! Nun wollen wir uns einmal miteinander messen!‹ fügte er stolz hinzu, als ob er sich an eine dunkle Macht wendete und sie zum Kampfe herausforderte. ›Und ich hatte mich schon darein ergeben, auf der schmalen Felsenplatte zu leben!

      Schwach bin ich freilich in diesem Augenblicke noch sehr; aber … die Krankheit scheint jetzt vollständig vorbei zu sein. Das habe ich schon vorhin, als ich ausging, gewußt, daß sie vorübergehen würde. Da fällt mir ein: das Potschinkowsche Haus ist ja nur ein paar Schritte von hier entfernt. Jetzt möchte ich unter allen Umständen zu Rasumichin gehen, auch wenn es weiter als ein paar Schritte wäre … Mag er die Wette gewinnen! … Mag er sich auch darüber amüsieren – immerzu, mag er! … Kraft, Kraft ist erforderlich; ohne Kraft richtet man nichts aus; aber Kraft muß man gerade wieder durch Kraft erwerben; das ist´s, was die meisten nicht wissen‹, fügte er stolz und selbstbewußt hinzu und verließ, kaum imstande die Füße zu heben, die Brücke. Sein Stolz und sein Selbstbewußtsein wuchsen reißend schnell; im nächsten Augenblicke war er schon ein ganz andrer Mensch als im vorhergehenden. Was war denn aber so Besonderes geschehen, das ihn so umgewandelt hatte? Das wußte er eigentlich selbst nicht; wie jemand, der nach einem Strohhalm greift, so glaubte auch er auf einmal, daß er noch weiterleben könne, daß ›es noch für ihn ein Leben gebe‹, daß ›sein Leben noch nicht mit dem der alten Frau zusammen zerstört und vernichtet sei‹. Vielleicht war diese Schlußfolgerung übereilt; aber das kam ihm nicht in den Sinn.

      ›Und ich habe sie gebeten, den Knecht Gottes Rodion im Gebet zu erwähnen‹, schoß es ihm durch den Kopf. ›Na, das ist für alle Fälle!‹ fügte er hinzu und lachte selbst über seinen kindlichen Einfall. Er befand sich in ausgezeichneter Gemütsstimmung.

      Rasumichins Wohnung fand er leicht; im Potschinkowschen Hause war der neue Mieter bereits hinlänglich bekannt, und der Hausknecht zeigte ihm sogleich den Weg. Raskolnikow war die Treppe erst zur Hälfte hinaufgestiegen, als er schon den Lärm und das Stimmengewirr einer großen Gesellschaft vernahm. Die nach der Treppe führende Tür stand sperrangelweit auf; man hörte Geschrei und Streiten. Rasumichins Zimmer war ziemlich groß; die Gesellschaft bestand aus etwa fünfzehn Personen. Raskolnikow blieb im Vorzimmer stehen. Hier beschäftigten sich hinter einer spanischen Wand zwei Dienstmädchen der Wirtsleute mit zwei großen Samowars, mit Flaschen, Tellern und Schüsseln, auf denen Pirog und kalter Aufschnitt lagen; all dies war aus der Küche der Wirtsleute hierhergeschafft worden. Raskolnikow ließ Rasumichin herausrufen. Dieser kam hocherfreut angelaufen. Es war auf den ersten Blick zu sehen, daß er ein erhebliches Quantum getrunken hatte, und obwohl Rasumichin sich fast niemals wirklich betrank, war ihm diesmal doch deutlich etwas anzumerken.

      »Hör mal«, sagte Raskolnikow eilig, »ich bin bloß hergekommen, um dir zu sagen, daß du die Wette gewonnen hast und daß in der Tat niemand vorher weiß, was alles auf ihn einwirken wird. Hineinkommen kann ich nicht; ich bin so schwach, daß ich jeden Augenblick umfallen könnte. Darum will ich dich nur begrüßen und dir zugleich ›Auf Wiedersehen‹

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