Gesammelte Werke von Dostojewski. Федор Достоевский
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»Hast du ihn gesehen?« fragte Raskolnikow nach einem kurzen Schweigen.
»Jawohl, ich habe ihn mir gemerkt, ordentlich gemerkt.«
»Hast du ihn auch genau gesehen, deutlich gesehen?« fragte Raskolnikow nochmals.
»Aber ja! Ich habe ihn ganz deutlich in der Erinnerung; aus tausend Menschen will ich ihn herauserkennen; ich habe für Physiognomien ein gutes Gedächtnis.«
Wieder schwiegen sie ein Weilchen.
»Hm! … Na ja …«, murmelte Raskolnikow. »Sonst, weißt du, … ich dachte schon, … es scheint mir immer, … daß das vielleicht nur eine Sinnestäuschung von mir ist.«
»Was willst du damit sagen? Ich verstehe dich nicht recht.«
»Ihr sagt doch alle«, fuhr Raskolnikow fort und verzog den Mund zu einem Lächeln, »ich wäre verrückt; jetzt eben hatte ich nun auch die Empfindung, daß ich vielleicht wirklich verrückt wäre und nur eine Vision gehabt hätte.«
»Aber was redest du da?«
»Ja, wer weiß? Vielleicht bin ich tatsächlich verrückt, und alle Ereignisse dieser letzten Tage haben sich nur in meiner Einbildung zugetragen …«
»Ach, Rodja! Das Gespräch mit dem Menschen hat dich wieder aufgeregt! … Was hat er denn gesagt? Warum ist er zu dir gekommen?«
Raskolnikow antwortete nicht; Rasumichin überlegte eine Minute lang; dann begann er:
»Nun, dann höre mal meinen Bericht an. Ich bin schon einmal bei dir gewesen, aber da schliefst du. Darauf aßen wir zu Mittag, und dann ging ich zu Porfirij. Sametow war immer noch bei ihm. Ich wollte ein Gespräch über die Sache anfangen, aber es gelang mir nicht recht; ich konnte es immer nicht in der richtigen Weise in Gang bringen. Es sah aus, als ob sie mich nicht verständen und nicht verstehen könnten, aber gar nicht verlegen wären. Ich nahm mir Porfirij beiseite ans Fenster und fing an zu sprechen; aber ich weiß nicht, es wurde wieder nichts Rechtes: er sah zur Seite, und ich sah zur Seite. Schließlich hielt ich ihm die Faust vors Gesicht und sagte, ich würde ihn zermalmen, so in verwandtschaftlicher Weise. Aber er sah mich bloß an. Ich spuckte aus und ging weg, und damit war die Sache zu Ende. Dumm, sehr dumm! Mit Sametow habe ich kein Wort gesprochen. Aber nun sieh mal: ich dachte zuerst, ich hätte die Sache noch mehr verdorben; aber als ich die Treppe hinunterstieg, kam mir ein Gedanke oder vielmehr eine Art Erleuchtung: warum machen wir beide, du und ich, uns eigentlich soviel Sorge und Mühe? Ja, wenn für dich eine Gefahr bestände, na, dann natürlich! Aber was geht es dich an? Du hast ja mit der Geschichte nichts zu tun, also scher dich nicht um die Kerle! Wir werden nachher noch weidlich über sie lachen, und ich würde sie an deiner Stelle noch absichtlich irreführen. Wie sie sich nachher schämen werden! Scher dich nicht um sie; nachher können wir sie auch durchprügeln, aber jetzt wollen wir über sie lachen!«
»Gewiß, selbstverständlich!« antwortete Raskolnikow.
›Aber was wirst du morgen sagen?‹ dachte er bei sich. Sonderbarerweise war ihm bisher noch nie der Gedanke gekommen: ›Was wird Rasumichin dazu sagen, wenn er es erfährt?‹ Bei diesem Gedanken blickte Raskolnikow ihn prüfend an. Für Rasumichins jetzigen Bericht über seinen Besuch bei Porfirij interessierte er sich nur sehr wenig: so vieles war in der Zwischenzeit in den Hintergrund getreten, und anderes hatte an Wichtigkeit gewonnen! …
Im Korridor trafen sie mit Lushin zusammen: er war pünktlich um acht Uhr gekommen und suchte nun die Zimmernummer, so daß sie alle drei gleichzeitig eintraten, aber ohne einander anzusehen und zu begrüßen. Die beiden jungen Männer gingen voran; Pjotr Petrowitsch dagegen, der immer den Anstand wahrte, verweilte noch einen Augenblick im Vorzimmer und legte dort seinen Überzieher ab. Pulcheria Alexandrowna ging sogleich hinaus, um ihn an der Schwelle zu empfangen. Dunja begrüßte ihren Bruder.
Pjotr Petrowitsch trat ein und verbeugte sich vor den Damen sehr artig, aber mit ganz besonders gemessenem Wesen. Es machte den Eindruck, als ob er einigermaßen überrascht wäre und sich noch nicht gefaßt hätte. Pulcheria Alexandrowna, die gleichfalls verlegen schien, forderte eilfertig alle auf, an dem runden Tische, auf dem der Samowar summte, Platz zu nehmen. Dunja und Lushin setzten sich einander gegenüber; Rasumichin und Raskolnikow kamen Pulcheria Alexandrowna gegenüber zu sitzen, und zwar Rasumichin näher an Lushin, Raskolnikow neben seiner Schwester.
Einen Augenblick schwiegen alle. Pjotr Petrowitsch zog langsam sein batistenes, parfümiertes Taschentuch heraus und benutzte es mit der Miene eines edlen, tugendhaften Menschen, der sich in seiner Würde etwas gekränkt fühlt und fest entschlossen ist, eine Erklärung zu verlangen. Als er noch im Vorzimmer war, war ihm der Gedanke gekommen, ob es nicht das beste sei, den Überzieher gar nicht auszuziehen, sondern wieder fortzugehen und dadurch die beiden Damen in strenger, nachdrücklicher Weise zu bestrafen, damit sie gleich mit einem Male seinen ganzen Unwillen zu fühlen bekämen. Aber er hatte sich doch nicht dazu entschließen können. Außerdem war er kein Freund unklarer Situationen, und hier mußte etwas klargestellt werden: wenn sein Befehl so offenkundig mißachtet worden war, so steckte gewiß etwas Besonderes dahinter; mithin war es das beste, dies zunächst in Erfahrung zu bringen; zur Bestrafung würde immer noch Zeit sein; das hatte er ja in der Hand.
»Ich hoffe, Ihre Reise ist glücklich vonstatten gegangen?« wandte er sich in förmlichem Tone an Pulcheria Alexandrowna.
»Ja, Gott sei Dank, Pjotr Petrowitsch.«
»Das freut mich sehr. Und Sie sind auch nicht zu sehr davon angegriffen, Awdotja Romanowna?«
»Ich bin jung und kräftig; mich greift so etwas nicht an; aber meiner Mama ist es recht schwer geworden«, antwortete Dunja.
»Was ist da zu machen? Die Entfernungen bei uns zulande sind eben gar zu groß. Groß ist unser sogenanntes Mütterchen Rußland. Ich konnte es beim besten Willen gestern leider nicht ermöglichen, Sie auf dem Bahnhofe zu empfangen. Ich hoffe indes, daß sich alles ohne besondre Schwierigkeiten erledigt hat?«
»Ach nein, Pjotr Petrowitsch, wir waren sehr mutlos«, beeilte sich Pulcheria Alexandrowna mit besondrer Betonung zu erwidern, »und wenn uns nicht Gott selbst, möchte ich meinen, in Dmitrij Prokofjitsch einen Helfer gesandt hätte, so wären wir ganz verloren gewesen. Hier: Dmitrij Prokofjitsch Rasumichin«, stellte sie ihn Herrn Lushin vor.
»Jawohl, ich hatte bereits das Vergnügen, … schon gestern«, murmelte Lushin, indem er jenem einen schrägen, feindseligen Blick zuwarf; dann machte er ein finsteres Gesicht und schwieg.
Überhaupt gehörte Pjotr Petrowitsch allem Anscheine nach zu den Leuten, die sich in Gesellschaft äußerst liebenswürdig benehmen und auch als sehr liebenswürdig anerkannt zu werden beanspruchen, die aber, sobald nur etwas nicht nach ihrem Wunsche ist, sogleich alle ihre gesellschaftlichen Fähigkeiten verlieren und dann eher Mehlsäcken gleichen als gewandten Kavalieren, die eine Gesellschaft zu beleben verstehen. Alle waren wieder stumm: Raskolnikow schwieg hartnäckig; auch Dunja wollte nicht vor der Zeit das Schweigen brechen; Rasumichin hatte keinen Anlaß zu sprechen; so wurde denn Pulcheria Alexandrowna wieder unruhig.
»Marfa Petrowna ist gestorben; haben Sie davon gehört?« begann sie, indem sie wieder zu ihrem besten Gesprächsthema ihre Zuflucht nahm.
»Gewiß habe ich es erfahren. Ich wurde sofort davon benachrichtigt und bin sogar jetzt hierhergekommen, um Ihnen mitzuteilen, daß Arkadij Iwanowitsch Swidrigailow unmittelbar nach der Beerdigung seiner Gemahlin eiligst nach Petersburg gereist ist. Wenigstens besagen das die sehr genauen Nachrichten, die ich erhalten habe.«
»Nach Petersburg?