Weihnachts-Sammelband: Über 250 Romane, Erzählungen & Gedichte für die Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). О. Генри
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Читать онлайн книгу Weihnachts-Sammelband: Über 250 Romane, Erzählungen & Gedichte für die Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - О. Генри страница 181
»Es war so schön bei dir, Harro,« flüstert sie, »unter dem Schleier der Gisela.«
Er glaubte, sie spreche von seinem Bild. »Still, still, Liebste,« flüstert er, und seine Lippen berühren ihre kühle Stirn. »Schlafe jetzt.«
Und nun schläft sie wirklich. Aber ihr Haupt ist bald so an seine Brust gesunken, daß er seinen Arm nicht unter ihr wegzuziehen wagt, sie müßte aufwachen. Ihre kalten Füße deckt er ängstlich, und er hat sie wenigstens in den Saum ihres Kleides eingehüllt, aber sie muß sich gestreckt haben, nun scheinen sie wieder hervor. »Die goldenen Freudenschuhe.« Er seufzt bitterlich. »Was jetzt kommt, ist die Hölle,« denkt er. Sie schläft ihm auch zu tief. Wenn sie aufwacht, wird die Not angehen. Er muß dankbar sein für jeden Augenblick, den sie noch ruht. Tante Ulrike steht an der Glastüre, er winkt ihr ab. Und die Blätter tanzen von der Linde, bedecken die alten Steinplatten, die einst die Tränen der Hexe benetzt haben... Sie fallen auf das weiße Gewand, auf das blasse Goldhaar...
Da erscheint Ulrike wieder. Er winkt ihr, sie kommt mit vorsichtigen Schritten, aber die Blätter rauschen doch, darüber muß er die Stirn runzeln. Sie beugt sich und legt ihre Hand auf die Goldschuhe, sie zuckt zusammen, sie greift nach der herabhängenden Hand, der sanft gelösten, sie zittert...
»Harro, mein armer Harro, o mein armer Harro!« ruft sie mit einer Stimme, wie man sie nicht über Schlafende hingehen läßt. »O mein armer, armer Harro!«
Er fährt zusammen, er begreift – es ist, als ob sich eine eiskalte Hand auf sein Herz lege und es zusammenpresse. Er zieht seinen Arm unter ihr hervor, keinen Blick mehr wirft er nach ihr, er taumelt an die Steinbrüstung... da bricht er zusammen, den Kopf auf die Platten gelegt... Ein lähmendes, würgendes Entsetzen... ein Abgrund, an dem die Seele in entsetzliche Tiefen hinunterstarrt, tut sich ihm auf... Da berührt ihn die Hand seiner Tante.
»Harro, komm und sieh sie an. Komm, mein Sohn, mein armer Sohn... Es wird dir leichter.«
»Ich kann nicht,« stöhnt er, »nie wieder... nie wieder...«
»Du mußt, Lieber... du mußt sie sehen, du wirst sie dann nicht mehr in die Qual zurückreißen wollen.«
Da erhebt er sich taumelnd... sie legt ihre starken Arme um ihn... er drückt seinen Kopf an ihre Schulter, sie braucht ihre ganze Kraft, seine Last zu tragen.
Ein Krampf schüttelt ihn. »Laß,« flehte er, »nie wieder, nie wieder.«
»Sieh hin,« befiehlt sie.
Er stößt einen wilden Schmerzensschrei aus wie ein verwundetes Tier. Sie ringt fast mit ihm, und dann nimmt er die Hände vom Gesicht.
Da liegt still und feierlich seine Rose, ein letztes geheimnisvolles Lächeln auf den noch blaßroten Lippen, die Augen halb geschlossen, das schöne Haupt zur Seite geneigt... Von seinem Herzen fällt der Eisstein, der sich darauf gelegt... es ist ihm, als werde er plötzlich aus dem Höllenschlund gehoben und an einen Ort gebracht, wo die sanfte Stille der Ewigkeit weht.
»Harro, mein Sohn... Sie ruhen von ihren Werken, keine Qual rührt sie an... Wie hast du sie glücklich gemacht, deine Rose. In deinen Armen, sieh ihr letztes Lächeln... So hast du sie getragen zu ihren himmlischen Gärten.« »Meine Rose, meine Rose,« flüstert er, und da fällt sanft und geheimnisvoll der Schleier der Gisela über ihn – – –
Die Rose hat recht gehabt. Die alte Braunecker Zeremonialkutsche rollt ihren Gang in den alten ausgefahrenen Gleisen. Niemand stört den Mann dort an dem stillen Lager, an dem er steht, niemand fragt ihn; Fräulein Berger tut ihre Schuldigkeit. Wenn die andern kommen, so geht er so lange hinüber in das große leere Zimmer, wo die alten Säulen stehen. Dort sitzt der Märt an einen Säulenknauf gelehnt, sein altes Gesangbuch in der Hand, seinen struppigen Kopf tief darüber gebeugt.
Und wie der Morgen graut, steht ein schmaler weißer Sarg da unter der mittleren Säule.
»Märt,« es ist das erste Wort, das er spricht... »Hilf mir.«
Der steht auf, seine Lippen bewegen sich... Die beiden Männer tragen zum letztenmal die Rose.
In ihrem Schlafzimmer auf ihrem Bette liegt sie, sie haben ihr das silberne Gewand angezogen und von dem goldenen Haupte geht unter der alten Spange ein weißer Schleier hervor und windet sich über Hals und Schultern. Ganz allein hebt Harro sie und trägt sie auf ihr letztes Lager. Und seine Künstlerhände tun noch einmal ihr Werk. Einen Kranz von weißen Rosen, kühl und frisch, legt er auf ihr Haupt, er streicht über die Falten ihres Gewandes, er legt ihr die Hände unter die Brust, so wie sie oft lagen in ihrer Leidenszeit. Es wären Höllenschmerzen, die er litte, wenn der Schleier der Gisela nicht wäre.
»Märt,« flüstert er, »ehe das Leben wach wird... Wir tragen sie hinunter.«
Und wieder schleppen sie. Kein Mensch ist noch auf, ein kalter Hauch, ein Seufzerwehen fährt durch die Galerie... Die Kapelle steht offen, an den Wanden hängen die schwarzen Tücher, am Boden erglänzt das Kreuz. Ein starker Blumenduft weht ihnen entgegen, von Rosen, von vielen, vielen Rosen.
»Märt,« sagt er, »halt die Wache,« und er geht hinauf. Am Nachmittag dürfen sie kommen, die die Rose von Brauneck geliebt haben und die mit ihrem Vater trauern wollen.
Nun ist das geheimnisvolle Lächeln von ihrem Antlitz verschwunden. Es ist eine marmorblasse junge Königin, die da liegt unter ihrem Rosenkranze in ihrem Silbergewand, und sie sieht nun der Gisela auf seinem Bilde ähnlich. Den Brautring der Braunecker haben sie ihr gelassen und sein blauer Zauberstein leuchtet an ihrer Hand. Über ihren Knien liegt ein Zweig von dem Wunderbaum, der vor dem Sterben blühte.
Während sie alle an ihr vorübergehen, die paar Stunden lang, steht Harro an ihrer Seite als ihr getreuer Wächter und Beschützer. Niemand redet mit ihm... wie eine Bildsäule steht er da. Sein Gesicht ist wie aus Erz.
Nun sind alle gegangen, und der Fürst kommt herein. Er ist schon oft dagewesen, nun, da alle fort sind, kommt er wieder.
Harro hebt seine schweren Augen zu ihm auf. »Vater,« sagt er leise, »sieh sie dir noch einmal an.«
Der Fürst zuckt zusammen. »Du willst schon ...?«
»Sie schläft noch, Vater. Heute morgen hat sie sich noch zurechtgelegt. Sieh, die Hand, sie sank ein wenig herab... Willst du warten, bis sie tot ist? Und ich kann sie auch nicht vorher verlassen, bis wir das letzte an ihr getan haben...«
Der Fürst nickt, schweigend stehn sie da, draußen verglüht der Abendhimmel und der Schein fällt auf die weißen Rosenkränze und auf ihr Antlitz. Und nun senken sich die Schatten, der Fürst wendet sich, einen Blick, einen letzten... dann geht er hinaus. Das Kind hat man die Mutter nicht mehr sehen lassen.
Nun ist Harro allein. Ein tiefer Atemzug hebt seine Brust... Seine Augen ruhen auf ihr, daß das Bild sich einbrennt auf dem Grunde der Seele... Dann ruft er seinem Knecht, der steht vor der Türe. »Das letzte, Märt.« Nein, das kann er nicht. Und der Knecht legt den Deckel über seine schöne strahlende junge Herrin.
»Bleibe du bei ihr, Märt, bis alles vorüber ist.«
Dann geht er langsam hinauf. Die Glocken läuten von der Höhe und aus dem Tale, ein weicher grauer Nebel hängt auf dem alten Städtchen mit seinen schmalen, hochgiebligen Häusern. Die Spitze des Kirchturms verschwindet