Weihnachts-Sammelband: Über 250 Romane, Erzählungen & Gedichte für die Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe). О. Генри

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Weihnachts-Sammelband: Über 250 Romane, Erzählungen &  Gedichte für die Weihnachtszeit (Illustrierte Ausgabe) - О. Генри

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hat, der muß ein ganz besonderes Interesse daran haben, und so versteht es sich ganz von selbst, daß ich es gern wissen wollte, wer diese Frau Hiller ist.«

      »So besuchen Sie sie doch einmal! Sie hält sich zwar, ebenso wie ihr Mann, sehr zurück, wird aber doch wohl nicht so unhöflich sein, Sie abzuweisen.«

      »Es ist, wie ich höre, auch ein Sohn da?«

      »Ja. Er hat, wie bereits gesagt, auf den Lawyer studiert, nimmt aber keine Stelle an, sondern sitzt zu Hause bei einer Menge von Büchern, mit denen er sich den ganzen Tag beschäftigt, als ob er sie auswendig lernen wolle. Sonst aber ist er, wenn man ihm begegnet, ein ganz freundlicher, junger Mann.«

      Es war so, wie ich gesagt hatte: der Umstand, daß diese Frau mein Gedicht besaß, fiel mir auf. Woher hatte sie es? Sie war eine Deutschamerikanerin. Stammte sie aus meiner Heimat? Hatte sie es mit herübergebracht, oder war es ihr von einem Verwandten geschickt worden? Es fiel mir nicht ein, das Gedicht für so wertvoll zu halten, daß sie es nur dieses dichterischen Vorzuges wegen so lange aufgehoben hätte; ich sagte mir vielmehr, daß es damit eine andere Bewandtnis haben müsse, und bin aufrichtig genug, zu gestehen, daß mich die Neugier trieb, sie kennen zu lernen. Ich ließ mir also ihre Wohnung beschreiben und ging, diese aufzusuchen.

      Das hübsche Häuschen hatte einen Seitengarten, in welchem eine Frau beschäftigt war, Spätrosen abzuschneiden. Ihr Kopf war zum Schutze gegen die Sonne mit einem weit vorgezogenen Tuche bedeckt, so daß ich ihr Gesicht nicht vollständig sehen konnte. Als ich mich bei ihr erkundigte, ob Frau Hiller zu sprechen sei, fragte sie, wer ich sei und was ich wolle. Ich nannte mich Meier und sagte, daß ich eine kurze Erkundigung beabsichtige und also gar nicht lange stören werde.

      »Gehen Sie hinein; ich komme gleich,« beschied sie mich und wendete sich dann wieder ihrer Arbeit zu.

      Im Flur gab es rechts und links eine Thür; die links war verschlossen; ich trat also rechts ein und befand mich dann in einem zwar kleinen aber für mich hochinteressanten Parlour, welches mit Waffen und indianischen Trophäen ausgestattet war. Ich fand aber keine Zeit zu einer langen Betrachtung derselben, denn die Frau, welche ich im Garten gesehen hatte, kam sehr bald nach und sagte, indem sie auf einen Stuhl zum Niedersitzen deutete:

      »Ich bin Frau Hiller. Womit kann ich Ihnen dienen, Mr. Meier?«

      Indem ich antworten wollte, nahm sie das Tuch vom Kopfe und legte es beiseite; ich bekam ihr ganzes Gesicht zu sehen und behielt vor Überraschung die Antwort auf den Lippen.

      »Nun, bitte!« sagte sie, als sie sah, mit welchem Erstaunen ich sie betrachtete.

      War es Wirklichkeit, oder irrte ich mich infolge einer Ähnlichkeit, die allerdings auffällig gewesen wäre, wenn eine Täuschung vorgelegen hätte? Nun war es mir freilich klar, warum diese Frau mein Gedicht aufgehoben hatte, denn es bildete ein Erinnerungszeichen an die vielleicht trübsten Tage ihrer Vergangenheit.

      »Sie wollten sich nach etwas erkundigen – –?« fragte sie, als ich noch immer mit der Antwort zögerte.

      »Allerdings,« ließ ich mich endlich hören. »Diese Erkundigung wird nun, da ich Sie sehe, freilich eine andere sein, als die, welche ich vorher beabsichtigte; sie ist der Art, daß ich alle Ursache zu der Bitte habe, sie mir nicht übelzunehmen.«

      »Sprechen Sie nur!« forderte sie mich auf, indem sie mich erwartungsvoll anblickte. Dabei trat ein Ausdruck in ihr Gesicht, von dem ich nicht wußte, ob er einer plötzlich aufsteigenden Besorgnis zuzuschreiben sei oder dem Bemühen, in meinen Zügen etwas ihr noch unklar Vorschwebendes deutlicher zu entdecken.

      »Haben wir uns nicht vielleicht schon einmal gesehen, Mrs. Hiller?« fragte ich.

      Sie wurde blaß, und ihre Stimme klang unsicher, als sie antwortete:

      »Ich gestehe, daß mir Ihr Gesicht nicht ganz fremd vorkommt. Wahrscheinlich sind wir uns hier in den Staaten einmal flüchtig begegnet?«

      »Nein, nicht hier, sondern drüben jenseits des Meeres. Wenn ich mich nicht irre, wurden Sie damals nicht Hiller, sondern Frau Elise Wagner genannt.«

      Da verwandelte sich die erst leichte Blässe ihres Gesichtes in vollständige Farblosigkeit; sie sank auf einen Sessel nieder, schlug die Hände zusammen und seufzte, indem sie mit angstvollen Augen zu mir aufblickte:

      »Mein Gott! Ist denn diese Zeit noch immer nicht versunken und vergessen? Geht die Grausamkeit des Schicksales so weit, uns selbst hier, an der Grenze des wilden Westens, noch zu verfolgen? Haben wir denn nicht schon genug unschuldig gelitten, daß selbst nach so langer Zeit das Gespenst der Vergangenheit sich aus dem Grabe erhebt und uns wieder drohend entgegentritt?«

      Sie wollte noch weiter sprechen; ich fiel ihr aber in die Rede:

      »Ich bitte dringend, sich ja keine Sorge zu machen! Die Absicht, welche mich zu Ihnen führt, ist eine durchaus freundliche, und ich beeile mich, Ihnen vor allen Dingen zu sagen, daß ich Sie nur zweimal ganz kurz gesehen habe und mir Ihre Verhältnisse vollständig unbekannt sind.«

      »Ah!« holte sie tief, tief Atem. »Ihre Absicht ist keine böse! Wie bin ich erschrocken! Bitte wollen Sie mir sagen, wo Sie mich gesehen haben?«

      »Es ist kein Wunder, daß Sie mich nicht erkennen, denn es sind seitdem Jahre verflossen, und ich war nur ein Knabe. Ich habe eigentlich auch gar keinen Grund, Sie in Ihrem hiesigen Heim zu stören, doch muß ich sagen, daß ich Ihnen stets ein treues und teilnahmvolles Andenken bewahrt habe. Als ich heut hier von Ihnen hörte, hatte ich keine Ahnung, daß Mrs. Hiller jene Frau Wagner ist, der ich für ihr ganzes Leben alles Gute wünsche.«

      Es war wieder Farbe in ihr Gesicht und Glanz in ihre Augen gekommen. Sie stand auf und fragte:

      »Aber, wenn Sie nicht wußten, wer ich bin, welche Ursache hatten Sie, mich aufzusuchen. Sie haben allerdings nicht das Aussehen eines Mannes, dem es Vergnügen bereitet, der Bedränger anderer Leute zu sein.«

      »Es ist eigentlich eine – wenn ich mich so ausdrücken darf – eine litterarische Veranlassung, welche mich zu Ihnen führt. Ich bin Schriftsteller und reise viel, um dann über meine Reisen Bücher zu schreiben. Ich habe damals als Schüler eine kleine poetische Sünde begangen, von der ich glaubte, daß sie mir längst vergeben sei; aber heut erfuhr ich, daß solche Sünden niemals vergessen werden. Die Rache hat mich vorhin hier in Weston ereilt, wo ich mit einem frommen Manne zusammentraf, der mir mein Verbrechen für fünfundzwanzig Cents an das Gewissen legte und mir dabei durch den Titel erfreulicherweise den Beweis erbrachte, daß ich doch wenigstens kein verlorener, sondern ein bekehrter Sünder bin.«

      Ich zog das Heft aus der Tasche und reichte es ihr hin, nachdem ich die erste Seite aufgeschlagen hatte. Sie warf einen Blick darauf und rief überrascht aus:

      »Mein Gedicht – – wollte sagen, mein Lieblingsgedicht! Es ist abgedruckt worden! Wer hat das gethan?«

      »Ein frommer, ja, ein sehr frommer Prayer-man, der es vor einiger Zeit bei Ihnen abgeschrieben hat.«

      »Der – –? Ich entsinne mich seiner. Ich kaufte ihm einige Sachen ab, deren Stil ein so frommschwülstiger war, daß ich glaubte, ihn darauf aufmerksam machen zu müssen, daß man durch diese Art der Ausdrucksweise, die eine gradezu abstoßende ist, der guten Sache mehr Schaden als Nutzen bringe. Er behauptete dagegen, daß es keine andere Behandlungsweise dieser Art von Themata gebe, und ich holte also dieses Gedicht, um ihn zu überführen. Es gefiel ihm sehr, und als er mich bat, es abschreiben zu dürfen, ersah ich keinen Grund, ihm die Erlaubnis zu verweigern. Ich ahnte freilich

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