Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert). Walter Benjamin
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Читать онлайн книгу Gesammelte Weihnachtsmärchen für Kinder (Illustriert) - Walter Benjamin страница 58
Sie wandten sich mehr denn je ihm zu und sahen ihn mit ungewöhnlich weit geöffneten Augen an, als sie sie ihm neben dem blinden Mädchen zeigten; denn wenn sie auch überall Leben und Heiterkeit mit sich brachte, wohin sie ging, so war ihr Einfluß doch ganz besonders groß in Kaleb Plummers Heim. Des blinden Mädchens Liebe zu ihr, die zarte Weise, in der sie Berthas Dank zurückzuweisen verstand; wie sie zu mancher kleinen List ihre Zuflucht nahm, um jeden Augenblick ihres Besuches so auszufüllen, daß er Kalebs Hause zugute kam und unter dem Vorwand, sich einen Tag köstlich zu amüsieren, wirklich schwer arbeitete; ihre großmütige Sorge für jene verabredeten Leckereien, die Kalbs-und Schinkenpastete und die Bierflaschen; ihr heiteres Gesicht, wenn sie an der Tür erschien und wenn sie Abschied nahm; dieser wundervolle Ausdruck in ihrem ganzen Wesen, von ihrem allerliebsten Fuß an bis zu ihrem Köpfchen, daß sie die Bedeutung ihrer Rolle bei diesem von ihr gegründeten Feste fühle – daß sie dort notwendig, unentbehrlich sei; das alles erhöhte die Freude der Feen und verdoppelte ihre Liebe zu ihr. Und noch einmal sahen sie den Fuhrmann alle zugleich an, gleichsam flehend und als schienen sie ihm zu sagen, während einige von ihnen sich in die Falten ihres Kleides nestelten, um sie besser liebkosen zu können:
»Ist das die Frau, die dein Vertrauen getäuscht hat?«
Mehr als ein-oder zwei-oder dreimal während der langen gedankenvollen Nacht zeigten sie sie ihm auch, wie sie auf ihrem Lieblingsstuhl saß, vorgeneigt den Kopf, mit über der Stirn gefalteten Händen und aufgelöstem Haar, wie er sie zuletzt gesehen hatte. Wenn sie sie so fanden, dann kümmerten sie sich gar nicht um ihn, sondern drängten sich um sie und trösteten und küßten sie und beeilten sich um die Wette, ihre Teilnahme und ihr Wohlwollen zu zeigen, wahrend sie ihn vollständig vergaßen.
So verging die Nacht. Der Mond ging unter, die Sterne verblaßten; der kalte Tag brach an; die Sonne ging auf. Noch immer saß der Fuhrmann gedankenvoll in der Kaminecke. Er hatte dort, den Kopf auf die Hände gestützt, die ganze Nacht gesessen. Die ganze Nacht hatte das treue Heimchen auf dem Herde sein Zirp-zirp-zirp gesungen. Die ganze Nacht waren die Hausfeen mit ihm beschäftigt gewesen. Die ganze Nacht war sie liebenswert und makellos gewesen, ausgenommen in den Augenblicken, wo jener Schatten darauf fiel.
Als es heller Tag war, stand er auf, wusch sich und kleidete sich an. Er konnte seinem gewöhnlichen ihm so lieb gewordenen Beruf nicht nachgehen – dazu fehlte es ihm an Mut –, aber es hatte das nichts zu bedeuten; da Teckletons Hochzeit war, hatte er sich darauf eingerichtet, seine Touren durch jemand anders machen zu lassen. Es war seine Absicht gewesen, heiter mit Dot zur Kirche zu gehen. Aber an so etwas war jetzt nicht mehr zu denken. Es war auch ihr Hochzeitstag. O wie wenig hatte er erwartet, daß dieses Jahr so enden könnte!
Der Fuhrmann hatte von Tackleton einen Morgenbesuch erwartet; und er irrte sich nicht. Kaum hatte er vor seiner Tür angefangen, auf und ab zu gehen, als er den Spielwarenhändler in seinem Wagen daherkommen sah. Als die Chaise näher kam, bemerkte er, daß Tackleton bereits hochzeitlich geschmückt war und daß er den Kopf des Pferdes mit Blumen und Bändern geschmückt hatte.
Das Pferd sah einem Bräutigam viel mehr ähnlich als Tackleton, dessen halbgeschlossenes Auge einen unangenehmeren Ausdruck hatte als je. Aber der Fuhrmann achtete wenig darauf. Seine Gedanken gingen in ganz anderer Richtung.
»John Peerybingle!« sagte Tackleton mit einer Trauermiene. »Armer Freund, wie geht es Euch heute morgen?«
»Ich habe eine schlechte Nacht gehabt, Mr. Tackleton«, erwiderte der Fuhrmann und schüttelte den Kopf; »denn mir ist allerhand durch den Sinn gegangen. Aber es ist jetzt vorüber. Habt Ihr etwa ein halbes Stündchen für mich übrig? Zu einer privaten Unterredung … ?«
»Dazu bin ich gerade gekommen«, erwiderte Tackleton, indem er vom Wagen stieg. »Kümmert Euch nur nicht um das Pferd. Es wird schon still stehen, wenn man die Zügel hier befestigt und Ihr ihm eine Handvoll Heu geben wollt.«
Nachdem der Fuhrmann dies aus dem Stalle geholt und es dem Pferde gegeben hatte, traten sie in das Haus.
»Die Trauung findet wohl nicht vor Mittag statt?« sagte John.
»Nein«, erwiderte Tackleton. »Zeit genug. Zeit genug.«
Als sie in die Küche traten, klopfte Tilly gerade an die Tür des Fremden; sie war nur einen halben Schritt davon entfernt. Das eine ihrer roten Augen – denn Tilly hatte die ganze Nacht geweint und natürlich nur, weil ihre Herrin weinte – hatte sie an das Schlüsselloch gelegt; sie klopfte sehr laut und schien gar sehr erschreckt.
»Wenn’s erlauben«, rief sie hinein, »ich kann niemand hören. Wenn’s erlauben. Sie sind doch am Ende nicht gestorben?«
Diese philantropischen Worte begleitete Fräulein Tolpatsch nachdrücklich durch mehrmaliges Klopfen und durch Fußtritte gegen die Tür, ohne jedoch irgendein Resultat zu erzielen.
»Soll ich nachsehen?« fragte Tackleton. »Der Fall ist wichtig.«
Der Fuhrmann, der sein Gesicht von der Tür abgewendet hatte, gab ihm ein Zeichen, er solle nur nachsehen, wenn er wolle.
Tackleton löste also Tilly ab; er trat und klopfte ebenfalls gegen die Tür, aber es gelang ihm ebensowenig, irgendwelche Antwort zu erhalten. Aber da kam er auf den Einfall, den Drehknopf der Tür zu probieren; und da sie leicht aufging, schaute er hinein und steckte den Kopf in die Stube, prallte aber rasch wieder zurück.
»John Peerybingle«, sagte er ihm ins Ohr. »Da ist doch heute nacht nichts – nichts Gewaltsames geschehen?«
Der Fuhrmann wandte sich rasch zu ihm um.
»Er ist nämlich fort!« sagte Tackleton: »und das Fenster ist offen. Ich sehe gar keine Spur…. Allerdings liegt das Zimmer fast in gleicher Höhe mit dem Garten…. Aber ich befürchte … es könnte irgendein … kleiner Streit, he?«
Er schloß das ausdrucksvolle Auge fast ganz und sah John durchdringend an. Sein Auge, sein Gesicht, ja seine ganze Gestalt bekam ein heftiges Zucken – als hätte er die Wahrheit aus ihm herausschneiden wollen.
»Beruhigt Euch«, sagte der Fuhrmann. »Er trat gestern abend in dies Zimmer, ohne daß ich ihm mit Worten oder Werken etwas zuleide getan habe; und niemand ist seitdem darin gewesen. Er ist aus freiem Willen fortgegangen. Auch ich möchte mit Freuden dies Haus verlassen, um von Tür zu Tür mein Brot zu erbetteln, wenn ich um diesen Preis fertigbringen könnte, daß er nie hier eingetreten wäre. Aber er ist gekommen und gegangen. Und nun habe ich nichts nicht mit ihm zu schaffen!«
»Ah!… Na, mir scheint, er ist ziemlich leicht davongekommen«, sagte Tackleton und nahm sich einen Stuhl.
Sein höhnisches Lachen ging dem Fuhrmann verloren, der sich ebenfalls setzte und, bevor er fortfuhr, einen Augenblick sein Gesicht mit seiner Hand beschattete.
»Ihr zeigtet mir gestern abend«, sagte er endlich, »Meine Frau, die ich liebe … wie sie heimlich …«
»Und zärtlich …« ergänzte Tackleton.
»Jenem Manne half, sich zu verkleiden, und ihm Gelegenheit gab, sie allein zu sprechen. Es gibt nichts, das ich nicht lieber gesehen hätte, als gerade das. Und es gibt wohl keinen Menschen in der Welt, von dem ich’s mir nicht lieber hätte zeigen lassen.«
»Ich