Gesammelte Erzählungen (Über 110 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz
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Читать онлайн книгу Gesammelte Erzählungen (Über 110 Titel in einem Band) - Joachim Ringelnatz страница 55
»Morgen Mittag soll es in See gehen. Wieviel wird er laufen?«
»Sechs, sieben Meilen. Mehr schaffen diese lütten Fischklepper nicht.«
»Bueno, Kamerad, dann können wir schon nächste Woche deutsche Soldaten sein.«
Der fremde Matrose erwiderte nichts.
»Wo, meinen Sie, daß man uns hinsteckt? Ich wünsche mich auf ein U-Boot, irgendwohin, wo es aufs Ganze geht. O, Deutschland wird siegen! Wissen Sie, wofür ich verdammt zehn Jahre meines Lebens hingeben wollte? Einmal als Sieger über den Trafalgar Square zu bummeln. Glauben Sie nicht auch, daß wir siegen werden?«
»Ich weiß nicht.«
Ein nüchterner Mensch! dachte der lange Matrose, und er stellte sich danach ein. »Teufel, das stinkt hier wie tausend Rattenkadaver! Kommt das aus der Bilsch?«
»Klippfisch«, brummte der andere wegwerfend.
»Der Kasten scheint voll zu sein; die Luken waren dicht. Am Ende nimmt er noch Deckslast. Wenn sie nur nicht morgen das Schiff noch einmal überholen. Ich bin schon zweimal von diesen vermaledeiten französischen Geheimspionen verscheucht.«
Der Stumme gähnte langatmig und dehnte sich in die Breite, wobei er dem Langen versehentlich mit dem Ellbogen in die Zähne schlug. Aber er sagte nichts.
»Halten Sie sich schon lange in Barcelona auf?«
»Sechs Wochen.«
»Sie musterten hier ab?«
»Nein, in Lissabon.«
»Lloyd?«
»Hapag.«
»Von der Westküste ...?«
»Südamerika. Ja.«
»Und reisten per Bahn?«
»Erst nach Madrid, dann nach Bilbao und dann nach hier.«
»Warum nicht gleich direkt?«
»Es waren zuviel Deutsche dort; man ließ uns nicht hinein. Erst mit der Zeit in kleinen Trupps schob man uns nach, wenn wieder andere fort waren.«
»Ja, ja, sie strömen alle herbei, für die Heimat zu kämpfen. – Wann weilten Sie zuletzt in Deutschland?«
»Vor drei Jahren.«
»Drei Jahren? Denken Sie: ich bin seit sieben Jahren fort. – Ob uns die Franzosen unterwegs anhalten werden?«
»– weiß nicht.«
»Indolent!« stieß der Lange geärgert hervor; doch war er überzeugt, daß der andere das Wort nicht verstünde. Er beschloß, fortan gleichfalls stumm zu sein.
So erstarben die Worte in dem geheimen Gelaß, und dafür lebten mancherlei traumwebende Geräusche der Ruhe auf: der ohnmächtig zornige Wellenschlag an der Bordwand, das Nagen einer Maus, zwei schnaufende Atemzüge nebeneinander, zuweilen ein Seufzer, auch ein Kleiderrauschen und Füßescharren, wenn der eine oder andere von den Matrosen seine Lage zu verändern trachtete.
Da füllte sich das auf die Knie gepreßte Ohr des Langen mit einem feinen Klingen, dem Summen eines Moskitos oder jenem Tone ähnlich, der entsteht, wenn man mit feuchtem Finger auf dem geschliffenen Rande eines wenig gefüllten Weinglases kreist.
Mein Ohr klingt, konstatierte der Lange in Gedanken, es denkt jemand an mich. Wahrscheinlich sogar mehrere ... alle ... selbst Vater. Und da das Klingen weiter währte, lauschte der Lange ihm aufmerksamst, zu ergründen, wo es wohl herrührte und was es für eine Bedeutung hätte.
Klingt es nicht wie ein vielfach gedämpfter Schrei? Ernst und gleichsam warnend? Zei ... eit! – Nein, doch irgendein Ruf mit i muß es sein, der ausdrückt: Besinne dich! Die Zeit eilt und kehrt nie – nie ... ie – wieder.
Die sieben Jahre kehren nie wieder. Arm und einsam verrannen sie, überreich an Glück und Liebe konnten sie sein. Er ist doch etwas ungemein Vornehmes an uns, dieser Trotz auf das Ausgesprochene. – Vielleicht klingt in dieser Minute auch Vaters Ohr. – – Unser Trotz wird nicht gebrochen sein, wenn wir uns wieder in die Arme fallen; er wird von beiden Seiten zurückgezogen, um einer höheren Aufgabe willen. – – Eilen sie doch alle, für ihr Blut, für ihr Vaterland einzustehen, auch die, welche die Heimat vergessen wollten oder sie hassen lernten. – – Auch ich werde für alle kämpfen, auch für die Brüder und ebenso für meinen Vater, sogar um die Erde, die Muttern deckt. – – Mein Gott, sich vorzustellen, daß Vater von reuiger Rückkehr sprechen oder an Vorwand – Krieg denken konnte – – nein! Ein deutscher Edelmann und Kaiser und Reich in Gefahr – –! Ich will meinen Schuldteil tilgen, ihn mit Blut abwaschen, und es spreche keiner von romantischer Wahnidee, von falscher Sentimentalität, Phrase oder Pose. – O großes Jahr, da in der Welt das Theatralische zur alltäglichen Wirklichkeit geworden ist! – Zwischen Feuer und Wasser will ich kämpfen, immer dort, wo die Gefahr gipfelt, allen voran, und nur mit dem Kreuz das geliebte Haus wieder betreten. – Gott gebe, daß sie mich nicht für dienstuntauglich erklären. – –
Die blinden Passagiere stöhnten und gähnten immer häufiger, und da sie doch zu sehr aufeinander angewiesen waren, um sich gegenseitig zu ignorieren, so lehnte schließlich der Lange seine rechte Wange gegen die Brust des andern und ruhte ein wenig in dieser Abwechslung aus, bis ihn die linke Hüfte schmerzte. Dann wechselten sie die Rollen. Nicht Licht noch Dämmerung kündeten nach einer Ewigkeit den Morgen, sondern ein Konzert aus Poltern, Rufen und schweren Tritten, das durch Eisen- und Holzwände geschwächt wurde, den erfahrenen, angestrengt lauschenden Seeleuten jedoch wichtige, vertraute Vorgänge verriet.
Der Lange klagte: »Ich habe Hunger wie ein Seeteufel. Wissen Sie, was ich jetzt tue? Ich ziehe mein Messer und untersuche der Reihe nach alle diese Kisten nach Freßbarem.«
»Nein, mußt nicht!« wehrte der andere. »Wir wollen dem Steward keine Schweinereien machen; das scheint ein anständiger Kerl. – Gib mal deine Flosse her – so! Da liegt ein Paket mit Brot und Wurst. Und hier, in dieser Fuge – vorsichtig! Fühlst du's? – Darauf mußt achtgeben; es ist eine Rose darin, die darf nicht geknickt werden.«
Dem Langen gefiel es herzlich und versöhnte ihn, daß jener bezüglich der Kisten so gewissenhaft dachte.
»Was für eine Rose?«
»Eine Rose aus Papageienfedern; ich kaufte sie in Brasilien vom Bumbootsmann für meine Braut.«
»Haben Sie keine Eltern mehr?«
»Nein.«
»Geschwister?«
»Keine. Mein einziger Bruder ist kürzlich mit einem Minensucher in die Luft gegangen.«
»Hm! Traurig und doch schön. Ich habe zwei Brüder im Felde, Dragoner – – –«
»Pst! Still!« zischte Klein. »Hörst du? Draußen ist schlimmes Wetter.«
»Immerzu! Sagen Sie mal: Warum wollen – warum willst du eigentlich nach Deutschland?«
»Was soll ich denn