Gesammelte Erzählungen (Über 110 Titel in einem Band). Joachim Ringelnatz
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Gesammelte Erzählungen (Über 110 Titel in einem Band) - Joachim Ringelnatz страница 64
Culassa spie wieder ein Stück Rinde aus und wickelte sich grunzend in seine Decke. – »Ja, wer kennt sich da aus? Das wird alles an den grünen Tischen ausgeknobelt. Unsereins kann nix dazu tun, als das Maul halten, bis es heißt: die zum Sterben abgeteilten Leute antreten zum Särgeempfang! oder so was Ähnliches. Und dann gehen wir, wohin man uns schickt. Nach der Türkei oder nach Belgien. Rekruten drillen oder englische Dampfer kapern, in die Fourierstube oder als Kanonenfutter. Aber sei man nicht bang, mein Junge, vorläufig wollen wir uns hier erst mal eine Zeitlang mästen, bis sie eine Verwendung für uns haben, und bis dahin ist dann hoffentlich auch schon Frieden.«
Zwei aus Trunkenheit polternde Stimmen näherten sich der Kasematte. »Das sind die beiden mit dem Eisernen Kreuz«, meinte Culassa unter der Decke hervor, »der eine hat bei Helgoland ein Auge verloren.« Der Freiwillige beobachtete, wie zwei bezechte Matrosen hereinstolperten. Sie redeten mit den Armen und mit Worten aufeinander ein, so laut, als hielte jeder von ihnen den anderen für schwerhörig, und beide redeten gleichzeitig. Nachdem sie ihre Plätze gefunden hatten, brachten sie es mit Anstrengung und Lärm dahin, ihre Spinde zu öffnen.
Der eine Matrose trug tatsächlich ein Glasauge, das er nicht mit dem Lide darüber zu verdecken imstande war. Fürchterlich sah er überhaupt aus. Sein Gesicht war von Brandwunden bedeckt, der Hals mit einem Verband umwickelt, und sein rotes Haar hing struppig über die Stirn. »Ein Weib!« schrie er wiederholt, sich die Kleidungsstücke vom Leibe reißend, um sie, Exerzierkragen, seidenes Tuch, Mütze, eins nach dem anderen auf den Fußboden zu werfen, »ein Weib! Junge, ich sage dir: ein Galaweib! So ein Busen! Und einen Achterpanzer! Und in Dreß wie eine Fürstin!«
Der andere Betrunkene wies gerade eine Vorahnung von Erbrechen zurück. »Nun setz man einen Stopper auf«, lallte er, »so ein Weib geht doch nicht mit einem Kuli, der nur ein Auge hat.«
»Ha, du Schlammroß, es sind eben nicht alle solche Mistspoken, wie du eine bist. Meinst du, ich würde nicht auch mit dem Mädchen gehen, wenn sie nur einen halben Busen hätte?«
Die Tür ward aufgestoßen, und eine militärische Stimme fragte herein: »Hilderling?«
»Hier, das bin ich«, meldete sich der Hagere laut und gierig.
»Morgen früh sieben Uhr vor dem Pulverschuppen antreten!« Die Ordonnanz aus der Schreibstube wollte sich entfernen. »Was soll's denn werden?« rief der Freiwillige drängend; er war ganz bleich im Gesicht geworden, und seine Zähne klapperten wieder hörbar aufeinander. Aber seine großen Augen zeigten einen sonderlichen Glanz von Frohsein.
»Arbeitskommando«, schnarrte die Ordonnanz kurz angebunden und schlug die Tür von außen zu.
Aus verschiedenen Seiten der Kasematte her brach ein gellendes Gelächter. Hilderling beteiligte sich daran, ungeschickt, wie er alles anfing. »Arbeitskommando? Was ist denn das?«
Culassa knurrte, schon halb im Schlaf, einige Andeutungen: »Kohlen schaufeln. Deckwaschen. Messing putzen. Strohsäcke stopfen.«
In der nächsten Frühe hallte die holter polter gepflasterte Straße, welche nach dem Wasser führt, von Schritten einer Abteilung Soldaten wider, die sich lustig genug ausnahm. Denn sie bestand aus fünfzehn Marinern, die in unförmig bauschige Takelbüchsen gekleidet waren und je einen Besen wie ein Gewehr geschultert hatten, dabei Pfeife rauchten und mit nichts und jedem ihre Posse trieben. Torpedermaat Bärtel, der zugführende Unteroffizier, nahm an dem Witzeln nicht teil, aber es kostete ihm Mühe, sein Gesicht dauernd in dem strengen, bärbeißigen Ausdruck zu erhalten, auf dem das ganze Ansehen seiner Charge balancierte. Ihn amüsierte nur der dürre Flügelmann der ersten Gruppe, weil dieser im Gegensatz zu den übrigen Soldaten mit aufrichtigem Ernst, ja mit einer unverkennbaren Begeisterung und durch Gedanken entrückt im Glied marschierte, außerdem zum Takte des Marschtempos ein Lied leise, doch so andauernd vor sich hin sang, daß sein Atem darüber in Erregung geraten war. Der Rhythmus der Melodie klang wie geschaffen für die zögernde Gangart, welche die Arbeitsgruppen sich anmaßen, außerdem kannte Bärtel so etwas vom Wortlaut des Liedes. So kam es, daß er dasselbe schließlich selbst mitbrummte.
Es geht bei gedämpfter Trommel Klang.
Wie weit noch die Stätt! Der Weg, wie lang!
O wär er zur Ruhe und alles vorbei.
Ich glaube, es bricht mir das Herz noch entzwei! ...
Indes, als Bärtels Zug sein Ziel erreichte, dies war eine vor der äußersten Mole verankerte Hulk, ein abgetakeltes, ehemaliges Schulschiff, schlug der Unteroffizier einen ganz anderen Ton an, indem er seinen Soldaten befahl, das Deck zu fegen, Wasser aufzuschlagen, herumliegende Enden aufzuschießen und anderes. Zu dieser Anweisung bediente er sich der gröbsten, unflätigsten Ausdrücke, deren er sich besinnen konnte, und errötete, als ihm solche wider Willen nur zaghaft und sanft über die Lippen kamen, daher auch statt Furcht oder Eifer nur lächelnde Heiterkeit hervorriefen. Bald danach entschwand Torpedermaat vom Deck wie ein Nebel. Seine Leute zerstreuten sich behaglich unter der stillen Vereinbarung, ihre Arbeiten möglichst in die Länge zu ziehen. Sie wanderten selbzweit oder -dritt durch alle Räume und Gänge des Schiffes, das jetzt zur Aufbewahrung von Kriegsmaterial diente, besprachen, verglichen, belächelten überlegen oder priesen übertreibend die veralteten Einrichtungen und Maschinen und schonten die Besen. Ein Oberheizer, der von Bord S.M.S. Wittelsbach abkommandiert war, gesellte sich zu Hilderling und kicherte, sich die Hände reibend: »Na, hier sind wir fürs nächste gut aufgehoben. Wir wollen diesen angefaulten Schiffskadaver nicht mit Schweißtropfen verunreinigen.« Hilderling nickte. »Ja, es ist ein unverständlicher, komplizierter Apparat, der uns buntgemischtes Volk aus allen Winkeln Deutschlands, gerade uns hierher versetzt, um in dem ungeheuren Weltkrieg 1915 einen alten Schiffsrumpf abzuschrubben. – Doch, wer weiß, übermorgen segeln wir vielleicht durch Granatenhagel.« »Und nächstes Jahr« – fiel der von der Wittelsbach ein – »gibt dir ein hübsches Mädel einen Korb oder einen Sechser, weil dir der rechte Arm fehlt und weil Krüppel eben Krüppel bleibt, mag er seine Knochen nun am Geschütz oder an der Dreschmaschine verloren haben.«
Hilderling blickte nicht den Heizer an, sondern über ihn und die Reling hinweg. »Schau! Schau!« rief er, »dort fährt eins von den neuen Tauchbooten! – Nicht wahr, ein Oberleutnant führt solch ein Boot? – Vielleicht wird er Großes leisten, wie Weddigen.« –
»Und zugrunde gehen wie Weddigen?« kicherte der Oberheizer.
»Ja, wie Weddigen!« wiederholte Hilderling, und seine Augen blitzten einen Moment. Dann fuhr er versonnen fort: »Ich habe Weddigen gekannt. – Er sah aus, wie die meisten unserer Seeoffiziere aussehen: jung, schneidig, frisch, hell. – Und nach hundert Jahren wird er aussehen wie – – was weißt du vom Admiral Kortenaer von Helst. – Aber von Störtebecker hast du gehört. – Kamerad, es verhält sich vielleicht so: In der Küche schmeckt nichts. Abstand! Abstand!« Damit ließ der Freiwillige den Oberheizer kopfschüttelnd stehen. Er schlenderte über Deck, zog sich träge eine eiserne Treppe empor und fand auf der Back einen zur Drückebergerei verlockenden Platz, wo er sich der Länge nach auf das saubere Holzdeck hinstreckte.
Das stellte sich als eine gute Wahl heraus. Ganz vorn, dicht am Bug, nach achtern zu durch die Schanze verborgen, auf dem Rücken liegend, den Nacken gegen das Fundament einer Kanone gestützt, überschaute er bequem einen Streifen des Meeres, mit Panzerschiffen, Torpedobootszerstörern, Netzsperren, einem Leuchtturm und mannigfachen Spezialfahrzeugen, und darüber freien, weiten, frohen Himmel. Hoch in der Bläue kreiste ein Flugzeug. Das Surren des Propellers klang an Hilderlings Ohr, auch Sirenensignale und von der Werft her ein tausendfaches Hämmern.