Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöf
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Читать онлайн книгу Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf - Selma Lagerlöf страница 12
Aber der Fuchs konnte den Schimpf nicht ertragen, daß er so einen kleinen Knirps nicht zu bewältigen vermochte, und er legte sich unter den Baum und hielt Wache.
Der Junge fühlte sich gar nicht behaglich, wie er dort rittlings über einem dünnen Zweig saß. Die kleine Buche reichte noch nicht bis an das hohe Laubdach hinan. Er konnte nicht auf einen andern Baum hinübergelangen, und er wagte nicht, von dem Baum hinunterzuspringen.
Es fror ihn, so daß er ganz steif wurde und nahe daran war, den Zweig loszulassen, und er war so schrecklich müde, aber er wagte nicht, sich hineinzusetzen, aus Furcht, herunterzufallen.
Es war gar nicht auszudenken, wie unheimlich es war, so zu nächtlicher Zeit draußen im Walde zu sitzen. Er hatte bisher nie gewußt, was es heißt, daß es Nacht war. Es war als sei die ganze Welt versteinert und könne nie wieder Leben gewinnen.
Und dann fing es an zu tagen, und der Junge freute sich, denn jetzt sah alles wieder so aus wie sonst, nur fand er, daß die Kälte noch schneidender wurde, als sie in der Nacht gewesen war.
Als die Sonne endlich aufging, war sie nicht gelb, sondern rot. Der Junge fand, sie sähe so böse aus und er grübelte nach, worüber sie wohl böse sein könne. Vielleicht darüber, daß die Nacht es so kalt und dunkel auf der Erde gemacht hatte, während die Sonne fort war.
Die Sonnenstrahlen kamen in großen Bündeln herbeigeeilt, um zu sehen, was die Nacht Schlimmes angerichtet hatte, und es sah so aus, als wenn alle Dinge erröteten, wie wenn sie ein schlechtes Gewissen hätten. Die Wolken am Himmel, die seidenglatten Buchenstämme, die kleinen ineinandergeflochtenen Zweige des Laubdaches, der Reif, der das Buchenlaub am Waldboden bedeckte, alles erglühte und errötete.
Aber es kamen immer mehr Strahlenbündel durch die Luft dahergeeilt, und bald war all das Unheimliche in der Natur in die Flucht getrieben.
Die Versteinerung war geschwunden, und es kam so erstaunlich viel Lebendes zum Vorschein. Der Schwarzspecht mit dem roten Nacken begann mit dem Schnabel gegen einen Baumstamm zu picken. Das Eichhörnchen hüpfte mit einer Nuß aus seinem Nest heraus, setzte sich auf einen Zweig und machte sich daran, die Nuß zu knacken. Der Star kam mit einer Wurzelfaser geflogen, und im Wipfel des Baumes sang der Buchfink.
Da begriff der Junge, daß die Sonne zu diesen kleinen Geschöpfen gesagt hatte: »Jetzt könnt ihr erwachen und aus euern Nestern herauskommen! Jetzt bin ich hier, jetzt braucht ihr vor nichts bange zu sein!«
Vom See her konnte man die Schreie der wilden Gänse hören, während sie sich zum Fluge anschickten. Gleich darauf kamen alle vierzehn Gänse über den Wald geflogen. Der Junge versuchte, sie zu rufen, aber sie flogen so hoch oben, daß seine Stimme sie nicht erreichen konnte. Sie glaubten wohl, daß der Fuchs ihn schon lange aufgefressen habe. Sie fanden es nicht einmal der Mühe wert, nach ihm zu suchen.
Der Junge war nahe daran, vor Angst zu weinen, aber nun stand die Sonne goldgelb und munter am Himmel und flößte der ganzen Welt Mut ein. »Du brauchst nie bange zu sein, oder dich über etwas zu beunruhigen, Niels Holgersen, so lange ich hier bin,« sagte die Sonne.
Das Gänsespiel.
Montag, den 21. März.
Im Walde blieb alles so, wie es war, ungefähr so lange, wie eine Gans braucht, um Frühstück zu essen, aber gerade, als der Morgen im Begriff war, in den Vormittag überzugehen, kam eine einsame wilde Gans unter das dichte Laubdach geflogen. Sie tastete sich zwischen den Stämmen und Zweigen hindurch und flog ganz langsam. Sobald Reineke Fuchs sie sah, verließ er seinen Platz unter der kleinen Buche und schlich auf sie zu. Die wilde Gans flüchtete nicht vor dem Fuchs, sondern flog ganz dicht an ihm vorüber. Reineke sprang hoch in die Höhe nach ihr, konnte sie jedoch nicht packen, und die Gans flog weiter, dem See zu.
Es währte nicht lange, da kam eine neue wilde Gans geflogen. Sie kam denselben Weg wie die erste und flog noch niedriger und langsamer. Auch sie flog dicht an Reineke Fuchs vorüber, und er sprang so hoch nach ihr, daß seine Ohren ihre Füße berührten, aber sie entkam doch unbeschädigt und setzte ihren Weg stumm wie ein Schatten nach dem See zu fort.
Es verging eine kleine Weile, dann kam wieder eine wilde Gans. Sie flog noch niedriger und langsamer, es schien, als werde es ihr noch schwerer, den Weg zwischen den Buchenstämmen zu finden. Reineke machte einen mächtigen Sprung, und es fehlte nur eines Haares Breite, daß er sie gefaßt hätte. Aber auch diese Gans entkam.
Gleich nachdem sie verschwunden war, kam eine vierte wilde Gans. Obgleich sie so langsam und so schlecht flog, daß Reineke meinte, er könne sie ohne Mühe fangen, war er jetzt bange, daß ihm ein Unfall zustoßen könne, und er wollte sie unangerührt wegfliegen lassen. Aber sie flog denselben Weg wie die andere, und als sie gerade über Reineke angelangt war, schwebte sie so tief herab, daß er sich verleiten ließ, nach ihr in die Höhe zu springen. Er gelangte so hoch, daß er sie mit der Pfote berührte, aber sie warf sich schnell auf die Seite und rettete ihr Leben.
Ehe Reineke noch Atem geschöpft hatte, kamen drei Gänse in einer Reihe. Sie kamen genau so geflogen wie die andern, und Reineke sprang nach ihnen allen hoch in die Höhe, aber es gelang ihm nicht, eine von ihnen zu fangen.
Dann kamen fünf Gänse, aber sie flogen besser als die vorhergehenden, und obwohl auch sie so aussahen, als wollten sie Reineke verlocken zu springen, widerstand er der Versuchung.
Ziemlich lange darauf kam eine einsame Gans. Das war die dreizehnte. Die war so alt, daß sie ganz grau war und nicht einen einzigen braunen Strich an ihrem ganzen Körper hatte. Es sah so aus, als könne sie den einen Flügel nicht recht gebrauchen, sie flog so jämmerlich und so schief, daß sie fast die Erde berührte. Reineke begnügte sich nicht damit, hoch nach ihr in die Höhe zu springen, er verfolgte sie in schnellem Lauf bis an den See hinab, aber auch diesmal wurden seine Anstrengungen nicht belohnt.
Die vierzehnte Gans kam, und das sah sehr hübsch aus; sie war weiß, und es schimmerte wie eine Lichtung in dem dunklen Walde, wenn sie ihre großen Flügel schwang. Als Reineke die sah, bot er alle Kräfte auf und hüpfte halbwegs bis an das Laubdach hinauf, aber die weiße Gans flog ganz unbeschädigt davon, genau so wie alle die andern.
Nun wurde es eine Weile still unter den Buchen. Es schien, als sei der ganze Schwarm wilder Gänse vorübergezogen.
Plötzlich fiel Reineke sein Gefangener ein, und er sah zu der Buche hinauf. Wie zu erwarten stand, war der Knirps verschwunden.
Aber Reineke blieb nicht viel Zeit, an ihn zu denken, denn nun kam die erste Gans vom See zurück und flog so langsam wie vorher unter dem Laubdach dahin. Trotz all seines Mißgeschickes freute sich Reineke, daß sie zurückkam, und er stürzte mit einem hohen Sprung auf sie zu. Aber er war zu hastig gewesen und hatte sich keine Zeit gelassen, den Sprung zu berechnen, so daß er nebenbei sprang.
Auf die Gans folgte eine zweite und eine dritte und eine vierte und eine fünfte, bis die Reihe wieder herum war und mit der alten Eisgrauen und der großen Weißen endete.
Sie flogen alle langsam und niedrig. Gerade als sie über Reineke Fuchs dahinschwebten, ließen sie sich herab, als wollten sie ihn auffordern, sie zu fangen. Und Reineke verfolgte sie und machte Sprünge, die ein paar Klafter hoch waren, ohne