Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöf
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Читать онлайн книгу Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf - Selma Lagerlöf страница 141
»Findest du nicht auch, Gänserich Martin, daß es langweilig sein wird, wenn wir nie wieder etwas so Schönes zu sehen bekommen?« fragte der Junge. – »Ich mag lieber die fetten, flachen Felder in Schonen sehen als diese mageren Waldhügel,« antwortete der Gänserich. »Aber du kannst dir doch denken, daß, wenn du die Reise durchaus fortsetzen willst, ich mich nicht von dir trennen werde.« – »Die Antwort habe ich von dir erwartet,« sagte der Junge, und man konnte es seiner Stimme deutlich anhören, daß ihm ein schwerer Stein vom Herzen fiel.
Als sie dann über Bohuslän dahinflogen, sah der Junge, daß die Hochebenen zusammenhängender wurden; die Täler lagen da wie schmale Schluchten, die in den Grund der Berge gesprengt waren, und die langen Seen auf dem Talboden waren so schwarz, als kämen sie aus der Tiefe der Erde. Auch dies war eine herrliche Landschaft, und so wie der Junge sie jetzt sah, bald mit einem kleinen Sonnenstreif darüber, bald im Schatten liegend, fand er, daß sie etwas Wildes und Eigentümliches hatte. Er wußte nicht, woher es kam, aber es fiel ihm ein, daß hier in alten Zeiten starke und tapfere Recken gelebt haben mußten, die viele gefährliche und kühne Abenteuer in diesen geheimnisvollen Gegenden ausgeführt hatten. Die alte Lust, etwas Merkwürdiges zu erleben, erwachte in ihm. »Es ist nicht unmöglich, daß mir die Spannung, jeden, oder doch jeden zweiten Tag in Lebensgefahr zu schweben, fehlen wird,« dachte er. » Es ist gewiß am besten, wenn ich damit zufrieden bin, wie es nun einmal ist.«
Davon sagte er jedoch nichts zu dem großen Weißen, denn die Gänse flogen mit der größten Geschwindigkeit, die ihnen möglich war, über Bohuslän dahin, und der Gänserich war so außer Atem, daß er kein Wort hervorbringen konnte. Die Sonne stand unten am Horizont, und hin und wieder verschwand sie hinter einer Bergspitze, aber die Wildgänse flogen so schnell, daß sie sie immer von neuem wiedersahen.
Endlich gewahrten sie im Westen einen blanken Streifen, der mit jedem Flügelschlag wuchs und breiter wurde. Es war das Meer, das milchweiß dalag, mit rosenroten und himmelblauen Streifen, und als sie an den Klippen am Strande vorüberflogen, erblickten sie abermals die Sonne, die jetzt groß und rot am Himmelsrand hing, bereit in die Wellen hinabzutauchen.
Aber als der Junge das freie, unendliche Meer sah und die rote Abendsonne, die mit einem so milden Glanz schimmerte, daß er gerade in sie hineinsehen konnte, da zogen Friede und Sicherheit in seine Seele ein. »Es hat gar keinen Zweck, betrübt zu sein, Niels Holgersen,« sagte die Sonne. »Es ist herrlich, auf der Welt zu leben, für Große wie für Kleine. Es ist auch gut, frei und frank zu sein und den ganzen Himmelsraum zum Tummelplatz zu haben.«
Das Geschenk der Wildgänse.
Die Wildgänse hatten sich zum Schlafen auf eine kleine Schäre vor Fjällbacka gestellt. Aber als Mitternacht nahte, und der Mond schon am Himmel stand, rieb sich die alte Akka den Schlaf aus den Augen und ging hin, um Iksi und Kaksi, Kalme und Nälja, Biisi und Kuusi zu wecken. Zuletzt stieß sie auch Däumling mit dem Schnabel, so daß er erwachte. »Was gibt’s, Mutter Akka?« fragte er und fuhr ganz erschreckt in die Höhe. »Nichts Besonderes!« antwortete die Führergans. »Nichts weiter, als daß wir sieben Alten aus der Schar diese Nacht eine Strecke übers Meer hinausfliegen wollen, und da wollte ich dich fragen, ob du nicht Lust hast, mitzukommen.«
Der Junge begriff sofort, daß Akka nicht mit einem solchen Vorschlag gekommen wäre, falls nicht etwas Besonderes vorgelegen hätte, und er setzte sich sofort auf ihren Rücken. Sie nahmen den Kurs in gerader Richtung nach Westen. Zuerst flogen sie über eine Reihe großer und kleiner Inseln, die nahe an der Küste lagen, dann über eine breite Strecke offenen Wassers, und schließlich erreichten sie die große Väderöer Inselgruppe, die ganz draußen am offenen Meer liegt. Alle Inseln waren niedrig und voller Klippen, und im Mondlicht konnte man deutlich sehen, daß sie an der Westseite von den Wellen blankgeschliffen waren. Einige davon waren ziemlich groß und auf ihnen unterschied der Junge ein paar Häuser. Akka suchte eine der kleinsten Schären auf und ließ sich dort nieder. Diese ganze Insel bestand nur aus einer unebenen Felsplatte mit einem breiten Spalt in der Mitte, in den das Meer seinen Strandsand und Muscheln hineingespült hatte.
Als Niels Holgersen von dem Rücken der Gans herunterstieg, sah er dicht neben sich etwas, das einem hohen, spitzen Stein glich. Aber fast im selben Augenblick merkte er, daß es ein großer Raubvogel war, der die Schäre zum Nachtquartier gewählt hatte. Er hatte jedoch kaum Zeit, sich darüber zu wundern, daß sich die Wildgänse so unvorsichtig neben einem gefährlichen Feind niedergelassen hatten, als der Vogel schon mit einem langen Sprung zu ihnen hinkam und er den Adler Gorgo erkannte.
Es stellte sich heraus, daß Akka und Gorgo sich hier draußen ein Stelldichein gegeben hatten. Sie waren beide nicht erstaunt, einander zu sehen, »Das war gut gemacht, Gorgo!« sagte Akka. »Ich hatte eigentlich nicht geglaubt, daß du vor uns am verabredeten Ort eintreffen könntest. Hast du lange gewartet?« – »Ich bin gestern abend gekommen,« antwortete Gorgo. »Aber ich fürchte, das einzige, weswegen du mich loben kannst, ist, daß ich so gut auf euch achtgegeben habe. Mit dem Auftrag, den du mir gegeben hast, sieht es nicht gut aus.« – »Ich bin überzeugt, Gorgo, daß du mehr ausgerichtet hast, als du dir merken lassen willst,« sagte Akka. »Ehe du aber erzählst, was dir auf der Reise begegnet ist, möchte ich Däumling bitten, mir beim Suchen von etwas, was hier auf der Schäre versteckt liegt, zu helfen.«
Niels Holgersen hatte dagestanden und einige schöne Schneckenhäuser betrachtet, aber als Akka seinen Namen nannte, sah er auf. »Du hast dich gewiß gewundert, Däumeling, warum wir nicht den geraden Kurs innegehalten haben, sondern hier auf das Kattegat hinausgeflogen sind,« sagte Akka. – »Ich fand das allerdings ein wenig sonderbar,« antwortete der Junge. »Aber ich weiß ja, daß Ihr triftige Gründe für alles habt, was Ihr tut.« – »Du hast einen guten Glauben an mich,« entgegnete Akka, »aber ich fürchte fast, daß du ihn jetzt einbüßt, denn es ist höchst wahrscheinlich, daß bei dieser Krise nichts herauskommen wird.«
»Vor vielen Jahren,« fuhr Akka fort, »wurden ich und ein paar von den Alten in unserer Schar auf einer Frühjahrsreise vom Sturm überfallen und auf diese Schäre verschlagen. Als wir sahen, daß wir nur das offne Meer vor uns hatten, fürchteten wir, so weit hinausgetrieben zu werden, daß wir uns nie wieder an Land zurückfinden würden. Deswegen legten wir uns auf die Wellen nieder. Der Sturm zwang uns, mehrere Tage zwischen diesen kahlen Klippen zu verweilen. Wir litten großen Hunger, und eines Tages gingen wir in dieser Rinne aus die Schäre hinauf und suchten nach Futter. Wir fanden keinen einzigen Grashalm, aber wir sahen ein paar Säcke, die fest zugebunden und halb vom Sand begraben waren. Wir hofften, daß Korn in den Säcken sein würde und bissen und zerrten daran, bis wir ein Loch in den Stoff gerissen hatten. Aber es war kein Korn, was herausströmte, es waren lauter glänzende Goldstücke. Dafür hatten wir Wildgänse keine Verwendung, und wir ließen sie liegen, wo sie lagen. Alle diese Jahre haben wir gar nicht an unseren Fund gedacht, aber jetzt im Herbst hat sich etwas zugetragen, was das Gold für uns begehrenswert macht. Wir wissen sehr wohl, es ist unwahrscheinlich, daß wir den Schatz hier noch finden, aber wir sind trotzdem hier herübergeflogen und bitten dich jetzt, einmal nachzusehen, wie sich die Sache verhält.«
Der Junge sprang in die Felsenspalte hinein, nahm in jede Hand eine Muschelschale und machte sich daran, den Sand beiseite zu werfen. Säcke fand er nicht, aber als er ein ziemlich tiefes Loch gegraben hatte, hörte er ein Klirren wie ein Metall und sah, daß da eine Goldmünze lag. Er tastete mit den Händen umher, fühlte, daß viele runde Münzen im Sand lagen, und eilte schnell zu Akka zurück. »Die Säcke sind vermodert und zerfallen,« sagte er, »so daß das Gold ringsumher im Sande zerstreut liegt, aber das Gold ist offenbar noch alles da.« »Das ist gut,« sagte Akka.