Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöf
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Читать онлайн книгу Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf - Selma Lagerlöf страница 154
Die Leute in der Kirche fühlten sich eigenartig bedrückt, als sie ihn so erblickten. Sie waren daran gewöhnt, ihn schwankenden Schrittes aus der Schenke herauskommen zu sehen in Gesellschaft lustiger Kameraden wie Oberst Beerencreutz mit dem dicken weißen Schnurrbart und Kapitän Bergh mit der gewaltigen Körperkraft.
Er hatte sich derartig dem Trunk ergeben, daß er mehrere Wochen hindurch sein Amt nicht mehr hatte versehen können und die Gemeinde über ihn hatte Klage führen müssen, erst bei seinem Propst und dann bei dem Bischof und Domkapitel. Jetzt war der Bischof gekommen, um Inspektion in der Gemeinde abzuhalten. Er saß im Chor mit seinem goldenen Kreuz auf der Brust. Die Prediger aus Karlstad und den Nachbargemeinden saßen rings um ihn herum.
Es unterlag keinem Zweifel, daß das Benehmen des Pfarrers die Grenzen des Erlaubten überschritten hatte. Zu jenen Zeiten – diese Geschichte spielt in den zwanziger Jahren des vorigen Jahrhunderts – nahm man es nicht so genau, wenn die Leute tranken; dieser Mann aber hatte infolge seiner Trunksucht sein Amt vernachlässigt, und nun sollte er es verlieren.
Er stand auf der Kanzel und wartete, während der letzte Gesangvers gesungen wurde.
Während er so dastand, kam die Gewißheit über ihn, daß er in der ganzen Kirche, in allen Stühlen lauter Feinde hatte. Die Herrschaft oben in der Loge, die Bauern unten in der Kirche, die Konfirmanden im Chor – sie waren alle seine Feinde. Ein Feind spielte die Orgel, und ein Feind trat die Bälge. Alle haßten ihn, von den kleinen Kindern, die in die Kirche getragen wurden, bis herab zu dem Kirchendiener, einem steifen, strammen Soldaten, der die Schlacht bei Leipzig mitgemacht hatte.
Der Pfarrer hätte sich auf die Knie werfen und sie um Barmherzigkeit anflehen mögen.
Aber gleich darauf überkam ihn ein dumpfer Zorn. Er entsann sich sehr wohl, wie er gewesen war, als er vor einem Jahr die Kanzel zum erstenmal bestieg. Damals war er ein unbescholtener Mann, und jetzt stand er da und schaute auf den Mann mit dem goldenen Kreuz herab, der gekommen war, um ihn zu richten.
Während er das Gebet sprach, rollte eine Blutwelle nach der andern über sein Gesicht – das war der Zorn.
Freilich hatte er getrunken, aber wer hatte ein Recht, ihn deswegen anzuklagen? Hatte jemand den Pfarrhof gesehen, auf dem er leben sollte? Der Tannenwald reichte finster und unheimlich bis dicht an die Fenster. Die Nässe tropfte von dem schwarzen Hausboden und lief an den schimmligen Wänden herab. Bedurfte er nicht des Branntweins, um den Mut aufrechtzuerhalten, wenn der Regen oder der treibende Schnee durch die zerbrochenen Fensterscheiben zu ihm eindrang, wenn das schlecht bestellte, vernachlässigte Erdreich nicht Brot genug hergeben wollte, um den Hunger fernzuhalten?
Seiner Meinung nach war er gerade so ein Pfarrer gewesen, wie sie ihn verdienten. Sie tranken ja alle. Weswegen sollte er der einzige sein, der sich Zwang antat? Der Mann, der seine Gattin begraben hatte, betrank sich beim Leichenschmaus; der Vater, der sein Kind zur Taufe gebracht hatte, hielt hinterher ein Saufgelage. Die Gemeinde trank auf dem Heimweg von der Kirche, so daß die meisten berauscht waren, wenn sie zu Hause anlangten. Für die war ein vertrunkener Pfarrer gut genug.
Auf den Amtsreisen, wenn er in seinem dünnen Mantel viele Meilen lang über die gefrorenen Seen gefahren war, wo alle Winde sich Stelldichein gaben, auf seinen Fahrten über diese selben Seen in offnem Boot bei Sturm und Platzregen, im Schneegestöber, wenn er hatte vom Schlitten steigen müssen, um seinem Pferd einen Weg durch haushohe Schneeschanzen zu schaufeln, oder wenn er über die grundlosen Waldwege hatte waten müssen – da hatte er es gelernt, den Branntwein zu lieben.
Ein Tag nach dem andern hatte sich finster und schwer dahingeschleppt. Bauer und Edelmann waren gleichsam an den Staub der Erde gefesselt, am Abend aber hatte der Geist seine Fesseln abgeschüttelt, befreit durch den Branntwein. Die Inspiration war gekommen. Das Herz wurde warm, das Leben strahlend, Gesang ertönte und Rosen dufteten. Da war ihm die Schenkstube zu einem Rosengarten unter südlichem Himmelsstrich geworden. Trauben und Oliven hingen über seinem Haupt Marmorstatuen schimmerten durch das dunkle Laubwerk, Philosophen und Dichter wanderten unter Palmen und Platanen.
Nein, er, der Pfarrer dort oben auf der Kanzel wußte, daß das Leben in dieser Gegend des Landes nicht zu ertragen sei; alle seine Zuhörer wußten das, und nun wollten sie ihn richten.
Sie wollten ihm den Talar abreißen, weil er betrunken in das Haus ihres Gottes gekommen war. Ha! – Alle diese Menschen, hatten die denn – wollten die sich denn etwa einbilden, daß sie einen andern Gott hatten als den Branntwein!
Er hatte das Einleitungsgebet gesprochen und beugte sich jetzt herab, um das Vaterunser zu beten.
Es herrschte atemlose Stille in der Kirche während des Gebetes. Plötzlich griff der Pfarrer mit fester Hand nach den Bändern, mit denen der Talar zusammengehalten war. Es war ihm, als wenn die ganze Gemeinde mit dem Bischof an der Spitze die Treppe zur Kanzel heraufgeschlichen kam, um ihm den Talar abzureißen. Er lag auf den Knien und wandte den Kopf nicht um, aber er konnte fühlen, wie sie an den Bändern zerrten, und er sah sie so deutlich, die Pröpste, Pfarrer, Kirchenvorsteher, den Küster und die ganze Gemeinde in einer langen Reihe, aus Leibeskräften zerrend und ziehend, um den Talar herunterzubekommen. Und er konnte es sich so deutlich vorstellen, wie alle die, die jetzt so eifrig zerrten, einer über den andern die Treppe hinabfallen würden, sobald das Gewand nachgab, und die ganze Reihe da unten, die nicht mitzerren konnte, die einander nur an den Rockschößen zupfte – sie alle würden mitfallen.
Er sah das so deutlich, daß er nahe daran war, laut zu lachen, während er dort auf den Knien lag, aber zu gleicher Zeit trat ihm der kalte Schweiß auf die Stirn. Das war doch zu entsetzlich!
Um des Branntweins willen sollte er jetzt ein verworfener Mann werden! Ein abgesetzter Pfarrer – gab es etwas Schimpflicheres hier auf der Welt?
Er konnte ein Bettler auf der Landstraße werden, betrunken am Grabenrande liegen, in Lumpen gekleidet gehen, sich zu den Landstreichern halten. –
Das Gebet war beendet. Jetzt sollte er seine Predigt halten. Da kam ein Gedanke über ihn, der ihm das Wort auf der Zunge zurückhielt. Er mußte daran denken, daß er heute zum letztenmal auf der Kanzel stehen und Gottes Lob und Ehre verkünden dürfte.
Zum letztenmal – das bewegte den Pfarrer tief. Er vergaß den Branntwein und den Bischof. Er mußte die Gelegenheit ergreifen und von Gottes Ehre zeugen.
Es war ihm, als versinke der Fußboden der Kirche in einen tiefen Abgrund, als werde das Dach der Kirche abgehoben, so daß er direkt in den Himmel schauen konnte. Er stand allein, ganz allein auf seiner Kanzel, und sein Geist bekam Flügel und flog zu dem offnen Himmel empor, seine Stimme wurde stark und gewaltig, und er verkündete die Ehre Gottes.
Er war ein Mann der Inspiration. Er ließ die ausgearbeitete Predigt liegen, die Gedanken flatterten zu ihm herab wie ein Flug zahmer Tauben. Es war ihm, als rede ein anderer, aber er fühlte gleichzeitig, daß dies das höchste war, was es auf Erden gibt, und daß niemand in Glanz und Herrlichkeit höher gelangen könne als er, während er so dastand und Gottes Ehre verkündete.
Solange die Feuerzunge der Inspiration über ihm glühte, redete er, als sie aber erloschen war und das Dach sich wieder auf die Kirche herabgesenkt hatte, und der Fußboden aus dem tiefen Abgrund heraufgehoben war, da kniete er nieder und weinte, denn er war sich bewußt, daß ihm das Leben seine schönste Stunde geschenkt hatte, und daß die jetzt vorüber war.
Nach dem Gottesdienst sollte eine Kirchenversammlung und eine Untersuchung abgehalten werden. Der