Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöf
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Dienstag, 8. November.
Es war einer von diesen nebeligen, trüben Tagen. Die Wildgänse hatten auf den großen Feldern bei der Sturuper Kirche geweidet und hielten gerade Mittagsrast, als Akka zu Niels Holgersen geflogen kam. »Es scheint, daß wir jetzt eine Weile stilles Wetter bekommen werden,« sagte sie, »und ich denke, wir fliegen morgen über die Ostsee.« – »Ach so!« sagte der Junge kurz, denn der Hals war ihm wie zugeschnürt, so daß er nicht sprechen konnte. Er hatte ja noch immer gehofft, daß er von dem Zauberbann erlöst werden würde, während er in Schonen war.
»Jetzt sind wir ziemlich nahe bei Vestervemmenhög,« sagte Akka, »und ich denke mir, du hast vielleicht Lust einmal zu Hause einzugucken. Es wird ja eine ganze Weile währen, bis du wieder jemand von den Deinen zu sehen bekommst.« – »Es wird wohl das beste sein, wenn ich das unterlasse,« sagte der Junge, aber man konnte es seiner Stimme anhören, daß er sich über den Vorschlag freute. – »Wenn der Gänserich bei uns bleibt, kann ja kein Unglück geschehen,« fuhr Akka fort. »Ich meine, du mußt wissen, wie es daheim bei dir aussieht. Vielleicht kannst du den Deinen auf irgendeine Weise helfen, selbst wenn du nicht wieder ein Mensch wirst.« – »Ja, darin habt Ihr recht, Mutter Akka. Daran hätte ich selbst denken sollen,« sagte der Junge und wurde ganz eifrig.
Einen Augenblick später befanden sich der Junge und die Führergans auf dem Wege zu Holger Nielsens, und es währte nicht lange, bis sich Akka hinter der steinernen Mauer niederließ, die die Häuslerstelle einschloß.
»Es ist doch sonderbar, wie unverändert alles ist,« sagte der Junge und kroch schleunigst auf die Mauer hinauf und sah sich um. »Es ist mir, als sei es gestern gewesen, als ich hier saß und euch in der Luft daherfliegen sah.«
»Ich möchte wohl wissen, ob dein Vater eine Büchse hat?« fragte Akka plötzlich. – »Das sollte ich meinen!« antwortete der Junge. »Um der Büchse wegen bin ich ja an jenem Sonntag zu Hause geblieben, statt in die Kirche zu gehen.« – »Dann wage ich nicht, hier zu stehen und auf dich zu warten,« sagte Akka. »Es wird am besten sein, wenn du morgen früh bei Smygehuk wieder zu uns stößt, dann kannst du die Nacht über zu Hause bleiben.« – »Ach nein, fliegt noch nicht fort, Mutter Akka!« rief der Junge und sprang schnell vom Zaun herunter. Er wußte nicht, woher es kam, aber er hatte gleichsam eine Ahnung, daß ihm oder den Wildgänsen etwas zustoßen könne, so daß sie einander nie wiedersehen würden. »Ihr könnt ja wohl sehen, wie betrübt ich bin, daß ich meine rechte Gestalt nie wieder bekommen soll,« fuhr er fort. »Aber ich will Euch doch sagen, ich bereue es nicht, daß ich im Frühling mit Euch geflogen bin. Nein, lieber will ich nie wieder ein Mensch werden, als diese Reise entbehren.« Akka sog ein paarmal Luft ein, ehe sie antwortete: »Da ist etwas, worüber ich schon lange mit dir habe reden wollen, aber wenn du doch nicht zu deinen Eltern zurückkehren wolltest, meinte ich, es habe keine Eile. Aber es kann ja nie schaden, daß wir darüber reden.« – »Ihr wißt, daß es nichts auf der Welt gibt, was ich nicht für Euch tun würde,« sagte der Junge. – »Wenn du etwas Gutes bei uns gelernt hast, Däumling, so findest du am Ende nicht mehr, daß die Menschen allein die Erde besitzen sollen,« sagte die Führergans feierlich. »Bedenke, ihr habt ein großes Land, da könntet ihr uns armen Tieren sehr wohl ein paar kahle Schären und einige sumpfige Seen und Moore und einige öde Felsen und entlegene Wälder überlassen, wo wir in Frieden leben könnten! Alle die Jahre, die ich gelebt habe, bin ich gejagt und verfolgt gewesen. Es wäre herrlich; zu wissen, daß es auch für einen Vogel, wie ich es bin, eine Freistatt gäbe.«
»Ich würde wahrlich glücklich sein, wenn ich Euch dazu hätte verhelfen können,« sagte der Junge, »doch ich werde wohl niemals zu Macht unter den Menschen gelangen.« – Aber wir stehen ja hier und sprechen, als wenn wir uns nie wiedersehen sollten,« sagte Akka, »und morgen früh treffen wir uns doch! Jetzt fliege ich zu meiner Schar zurück.« Sie hob die Flügel, kam aber wieder zurück, strich ein paarmal mit dem Schnabel an Däumling auf und nieder und flog dann schließlich davon.
Es war Heller Tag, aber auf dem Hofe war kein Mensch zu sehen, so konnte der Junge gehen, wohin er wollte. Er eilte nach dem Kuhstall, denn er wußte, daß er bei den Kühen am besten Auskunft erhalten konnte. Es sah traurig aus dadrinnen. Im Frühling waren da drei prächtige Kühe gewesen, aber nun stand nur noch eine einzige da. Es war Mairose und man konnte ihr ansehen, daß sie sich nach ihren Kameraden sehnte. Sie ließ den Kopf hängen und hatte kaum ein Hälmchen von dem Futter angerührt, das vor ihr lag.
»Guten Tag, Mairose!« sagte der Junge und sprang ohne Angst zu ihr in den Stand hinein. »Wie geht es Vater und Mutter? Was machen die Katze und die Gänse und die Hühner, und wo hast du Stern und Goldlilie gelassen?«
Als Mairose die Stimme des Jungen hörte, fuhr sie zusammen, und es sah so aus, als habe sie Lust, mit den Hörnern nach ihm zu stoßen. Aber sie war nicht mehr so hitzig wie früher, sondern ließ sich Zeit, Niels Holgersen zu betrachten, ehe sie ihn auf die Hörner nahm. Er war noch ebenso klein wie bei seiner Abreise, und er hatte denselben Anzug an wie bei seiner Abreise, aber er sah trotzdem ganz anders aus. Der Niels Holgersen, der im Frühling von dannen gezogen war, hatte einen schweren und langsamen Gang, seine Stimme war träge und seine Augen waren schläfrig, der Niels Holgersen aber, der wiederkam, war leicht und geschmeidig, flink in seiner Rede, und hatte ein Paar Augen, die leuchteten und glänzten. Seine Haltung war so keck, daß man unwillkürlich Respekt vor ihm bekommen mußte, so klein er war. Und obwohl er selbst nicht gerade glücklich aussah, wurde man froh, wenn man ihn nur ansah.
»Muh!« brüllte Mairose. »Sie haben ja freilich gesagt, er wäre anders geworden, aber ich wollte es nicht glauben. Willkommen daheim, Niels Holgersen, willkommen daheim! Dies ist die erste frohe Stunde, die ich seit langen Zeiten gehabt habe!« – »Hab’ Dank, Mairose!« sagte der Junge, froh überrascht durch den freundlichen Empfang. »Erzähle mir jetzt, wie es Vater und Mutter geht!«
»Die haben nur Sorgen und Unglück gehabt, seit du davongegangen bist,« sagte Mairose. »Das Allerschlimmste war das teure Pferd, das den ganzen Sommer hier gestanden und nichts weiter getan hat als fressen. Dein Vater kann sich nicht entschließen, es zu erschießen, und verkaufen kann er es nicht. Das Pferd ist schuld daran, daß Stern und Goldlilie verkauft werden mußten.«
Der Junge wollte eigentlich etwas ganz anderes wissen, aber er scheute sich, geradeheraus zu fragen. Deswegen sagte er: »Mutter war wohl nicht sehr ärgerlich, als sie sah, daß der Gänserich Martin davonflog?«
»Ich glaube, sie hatte sich die Sache mit dem Gänserich nicht so zu Herzen genommen, wenn sie gewußt hätte, wie es kam, daß er davonflog. Jetzt trauert sie Tag und Nacht darüber, daß ihr eigener Sohn sich von Hause fortgeschlichen und den Gänserich mitgenommen hat.«
»Sie glaubt also, daß ich den Gänserich gestohlen habe?« fragte der Junge. – »Was sollte sie sonst wohl glauben?« – »Vater und Mutter glauben wohl, daß ich mich diesen Sommer wie ein Landstreicher umhergetrieben habe?« – »Sie denken, daß es schlimm mit dir steht,« antwortete Mairose. »Und sie haben über dich getrauert, wie man trauert, wenn man das Liebste verliert, was man besitzt.«
Als der Junge dies hörte, ging er schnell aus dem Kuhstall und begab sich in den Pferdestall. Der war klein aber zierlich. Man konnte deutlich sehen, daß Holger Nielsen sich alle erdenkliche Mühe gegeben hatte, um ihn so einzurichten, daß das neuangekommene Pferd sich wohl dort fühlen sollte. Und da stand ein wunderschönes Pferd, das förmlich von Wohlsein glänzte.
»Willkommen im Stall!« sagte der Junge. »Ich habe gehört, daß hier ein krankes Pferd sein soll, aber das kannst du doch nicht sein, so frisch und gesund, wie du aussiehst!« Das Pferd wandte den Kopf um und sah den Jungen aufmerksam an. »Bist du der Sohn des Hauses?« fragte es. »Von dem habe ich soviel Schlimmes gehört. Aber du siehst so gut aus, daß, wenn ich nicht wüßte, er sei in ein Heinzelmännchen verwandelt, ich