Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöf
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Diese Gedanken trösteten sie ein wenig, und sie beschloß, ihren Plan nun doch auszuführen. Und um ihren Mut zu stärken, ging sie in den Part hinab, der den Abhang zwischen dem Schloßhügel und dem See bedeckte. Als sie unter den schönen Bäumen dahinschritt, die so finster und geheimnisvoll im Mondschein dastanden, erwachten viele frohe Erinnerungen in ihr. Sie erzählte den Kindern, wie es zu ihrer Zeit auf Nääs gewesen war, und wie glücklich sie sich als Schülerin hier gefühlt hatte, wo sie jeden Tag in dem schönen Park lustwandeln durfte. Sie erzählte von Festen und von Spiel und Arbeit, vor allem aber erzählte sie von der großen Güte, die ihr und so vielen anderen diesen stolzen Herrenhof erschlossen hatte. Auf diese Weise hielt sie ihren Mut aufrecht, und sie gelangte durch den Park und über die alte steinerne Brücke und erreichte die Wiese unten am See, wo die Villa des Vorstehers mitten zwischen den Schulgebäuden lag.
Dicht an der Brücke lag der grüne Spielplatz, und als sie daran vorüberkam, beschrieb sie den Kindern, wie schön es hier an den Sommerabenden war, wenn die Rasenfläche von hellgekleideten Menschen wimmelte und Singspiele und Ballspiele einander ablösten. Sie zeigte den Kindern das »Freundesheim«, in dem der Versammlungssaal war, die Villen, in denen sich die Unterrichtsäle und der Turnsaal befanden. Sie ging schnell und sprach unaufhörlich, als wolle sie sich keine Zeit lassen, ängstlich zu warten. Als sie aber schließlich so weit gekommen war, daß sie die Villa des Vorstehers sehen konnte, blieb sie plötzlich stehen.
»Wißt ihr was, Kinder, ich glaube, wir gehen nicht weiter,« sagte sie. »Ich habe bisher nicht daran gedacht, aber der Vorsteher ist vielleicht so krank, daß wir ihn durch unsern Gesang stören könnten. Es wäre ja schrecklich, wenn wir ihn noch kränker machten.«
Der kleine Niels Holgersen war die ganze Zeit mit dabei gewesen und hatte alles gehört, was die Lehrerin erzählte. Er wußte also, daß sie ausgegangen waren, um jemand, der da drüben in der Villa krank lag, etwas vorzusingen, und er begriff jetzt, daß aus dem Gesang nichts werden würde, weil sie fürchteten, den Kranken zu stören und zu beunruhigen.
»Es ist doch schade, daß sie wieder von dannen gehen, ohne zu singen,« dachte er. »Es wäre ja die leichteste Sache von der Welt, zu erfahren, ob der Kranke wirklich zu schwach ist, um ein wenig Gesang hören zu können. Warum geht die Lehrerin nicht nach der Villa und erkundigt sich?«
Aber auf diesen Gedanken schien die Lehrerin gar nicht zu kommen; sie kehrte im Gegenteil um und ging schweigend heimwärts. Die Schulkinder erhoben ein paar Einwendungen, aber sie brachte sie zum Schweigen. »Nein, nein,« sagte sie. »Es war dumm von mir, daß ich hierher gehen und singen wollte, jetzt, wo es schon dunkel geworden ist. Wir könnten leicht stören.«
Da meinte Niels Holgersen, wenn kein anderer es tun wollte, so müßte er zu erfahren suchen, ob der Kranke wirklich zu schwach war, um ein wenig Gesang zu hören. Er entfernte sich von den andern und lief nach dem Hause hinüber. Vor der Villa hielt ein Wagen, und neben den Pferden stand ein alter Kutscher und wartete. Der Knabe war kaum bis an den Eingang des Hauses gelangt, als die Tür aufging und ein Mädchen mit einem Teebrett heraustrat. »Sie werden wohl noch ein wenig auf den Herrn Doktor warten müssen, Larsson,« sagte sie. »Da hat mir die gnädige Frau gesagt, ich sollte Ihnen etwas Warmes bringen.«
»Wie geht es denn dem Herrn?« fragte der Kutscher.
»Er hat keine Schmerzen mehr, aber es ist, als wenn das Herz still steht. Der Herr Vorsteher hat schon eine ganze Stunde dagelegen, ohne sich zu rühren. Wir wissen kaum, ob er noch lebt oder schon tot ist?«
»Hat der Doktor gesagt, daß da keine Hoffnung mehr ist?«
»Man muß auf alles gefaßt sein, Larsson, ja, man muß auf alles gefaßt sein. Es ist, als lausche der Herr Vorsteher nach etwas. Wenn ein Ruf an ihn von oben kommt, so ist er bereit.«
Niels Holgersen lief schnell den Weg entlang, um die Lehrerin und die Kinder einzuholen. Er dachte daran, wie es gewesen war, als sein Großvater starb. Der war Seemann gewesen, und als er in den letzten Zügen lag, hatte er gebeten, man möchte das Fenster öffnen, damit er noch einmal den Wind brausen höre. Und wenn nun der Kranke hier es so über alles geliebt hatte, von Jugend umgeben zu sein, und ihren Liedern und Spielen zuzuhören …?
Die Lehrerin ging unschlüssig die Allee hinab. Jetzt, wo sie sich von Nääs entfernte, empfand sie ein Verlangen, umzukehren, und als sie vorhin auf dem Wege dahin gewesen, war sie auch kurz davor gewesen, wieder umzukehren. Sie war noch immer gleich unschlüssig und unsicher.
Sie sprach nicht mehr mit den Kindern, sondern ging ganz stumm dahin. In der Allee, durch die sie ging, war der Schatten so tief, daß sie nichts sehen konnte. Es war ihr, höre sie eine Menge Menschen und Stimmen um sich her. Es war ihr, als erklängen angstvolle Rufe von tausend verschiedenen Seiten. »Wir sind soweit weg, alle wir andern!« sagten die Stimmen. »Aber du bist ganz nahe. Geh’ hin und singe du, was wir alle fühlen.«
Und sie dachte an den einen und den andern, dem der Vorsteher geholfen und dessen er sich angenommen hatte. Es war übermenschlich, wie er sich angestrengt hatte, allen, die in Not waren, zu helfen. »Geh’ hin und singe ihm etwas vor!« flüsterte es ringsum sie her. »Laß ihn nicht sterben, ohne einen letzten Gruß von seiner Schule zu empfangen! Denk’ nicht daran, daß du gering und unbedeutend bist! Denk’ an die große Schar, die hinter dir steht! Laß ihn, ehe er von uns geht, verstehen, wie innig wir alle ihn lieben!«
Die Lehrerin ging immer langsamer. Da hörte sie etwas, was nicht nur Stimmen und mahnende Rufe in ihrer eigenen Seele war, sondern was aus der äußeren Welt um sie herkam. Es war keine gewöhnliche menschliche Stimme. Es war wie das Zwitschern eines Vogels oder das Zirpen eines Heimchens. Aber es rief trotzdem ganz deutlich, sie solle wieder umkehren.
Und mehr gehörte nicht dazu, um ihr Mut zu machen, ihr Vorhaben auszuführen. – – –
Die Lehrerin und die Kinder hatten ein paar Lieder vor dem Fenster des Vorstehers gesungen. Sie fand selbst, daß ihr Gesang so wunderbar schön geklungen hatte in dieser Abendstunde. Es war, als hätten unbekannte Stimmen mitgesungen. Der ganze Raum war gleichsam von Tönen und Lauten angefüllt gewesen. Sie hatten den Gesang nur anzustimmen brauchen, dann hatten ihre Stimmen einen Klang und eine Kraft erhalten, die sie sonst nicht besessen hatten.
Da tat sich plötzlich die Tür auf, und jemand kam schnell heraus. »Jetzt kommen sie, um mir zu sagen, daß ich nicht mehr singen soll,« dachte die Lehrerin. »Wenn ich ihm nur nicht geschadet habe!«
Aber das war nicht der Fall. Es war die Bitte, sie möchte ins Haus hineinkommen und etwas ausruhen und dann noch ein paar Lieder singen. Da drinnen kam ihr der Doktor entgegen. »Die Gefahr ist für diesmal vorüber,« sagte er. »Er lag besinnungslos da, und das Herz schlug schwächer und schwächer. Aber als Sie zu singen begannen, war es, als erhalte er einen Gruß von allen denen, die seiner