Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf. Selma Lagerlöf
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Читать онлайн книгу Ausgewählte Werke von Selma Lagerlöf - Selma Lagerlöf страница 46
Als Wind-Eile und die anderen Krähen das hörten, wurden sie so erzürnt, daß sie sich über den Jungen stürzen und ihn zerreißen wollten. Fumle-Drumle aber lachte und krächzte und stellte sich vor ihn hin. »Nein, nein, nein!« sagte er und tat so, als erschrecke er sehr. »Was meint ihr, wird Wind-Kaara sagen, wenn wir Däumling zerreißen, ehe er uns das Silbergeld geschafft hat?« – »Also du bist bange vor Weibsleuten, Fumle-Drumle?« sagte Eile, aber er und die andern lachten und ließen Däumling in Ruhe.
Bald darauf zogen die Krähen weiter. Bisher hatte der Junge im stillen gedacht, Smaaland sei doch kein so armseliges Land, wie er immer gehört hatte. Es war freilich sehr bewaldet und voll von Bergabhängen, aber an den Flüssen und Seen entlang lagen bestellte Felder und wirkliche Einöden hatte er noch nicht angetroffen. Aber je tiefer sie ins Land hineinkamen, um so spärlicher wurden die Dörfer und Häuser. Schließlich erschien es ihm wie ein ganzes Wüstenland, über das er hinflog, wo er nichts weiter sah als Moore und Heiden und Wacholderhügel.
Die Sonne war untergegangen, aber es war noch heller Tag, als die Krähen die große Heide erreichten. Wind-Eile sandte eine Krähe voraus, um zu melden, daß er siegreich heimkehre, und als dies verlautete, zog Wind-Kaara mit vielen Hunderten von Krähen vom Krähenhügel den Heimkehrenden entgegen. Mitten unter dem ohrenbetäubenden Krächzen, das die Krähen anstimmten, als sie sich wiedersahen, sagte Fumle-Drumle zu dem Jungen: »Du bist während der ganzen Reise so munter und fröhlich gewesen, daß ich dich gern leiden mag. Sobald wir uns niederlassen, werden sie dich bitten, eine Arbeit zu verrichten, die dir vielleicht sehr leicht erscheinen wird. Hüte dich aber, sie auszuführen!«
Gleich darauf setzte Fumle-Drumle Niels Holgersen auf den Boden einer Sandgrube nieder. Der Junge warf sich hin und blieb liegen, als käme er um vor Müdigkeit. Es flatterten so viele Krähen um ihn herum, daß es in der Luft brauste wie ein Sturm, aber er sah nicht in die Höhe.
»Däumling,« sagte Wind-Eile, »steh jetzt auf! Du sollst uns bei etwas behilflich sein, was sehr leicht für dich ist.«
Aber der Junge rührte sich nicht, er tat so, als schliefe er. Da packte Wind-Eile ihn beim Arm und schleppte ihn durch den Sand zu einer Tonkruke von altmodischer Form, die mitten in der Grube stand. »Steh auf, Däumling!« sagte er, »und mach’ uns diese Kruke auf!« – »Warum wollt ihr mich nicht schlafen lassen?« sagte der Junge. »Ich bin zu müde, um es heute abend noch zu tun. Wartet doch bis morgen!«
»Du machst sofort die Kruke auf!« befahl Wind-Eile und rüttelte ihn. Da erhob sich der Junge und musterte die Kruke. »Wie glaubt ihr nur, daß ich armes Kind eine solche Kruke öffnen kann? Die ist ja ebenso groß wie ich.« – »Mach’ sie auf!« kommandierte Wind-Eile noch einmal. »Sonst ergeht es dir schlecht.« Der Junge erhob sich, schwankte nach der Kruke, befühlte den Deckel und ließ die Arme sinken. »Ich habe sonst keine schwachen Kräfte,« sagte er. »Wenn ihr mich nur bis morgen schlafen lassen wollt, glaube ich wohl, daß ich mit dem Deckel fertig werden kann.«
Aber Wind-Eile war ungeduldig und flog hin und zwickte den Jungen ins Bein. Das wollte sich der Junge jedoch nicht von einer Krähe gefallen lassen. Er riß sich schnell los, trat ein paar Schritte zurück, zog sein Messer aus der Scheide und hielt es ausgestreckt vor sich hin. »Nimm dich in acht!« rief er Wind-Eile zu.
Der aber war so empört, daß er sich nicht von der Gefahr zurückschrecken ließ. Blind vor Wut stürzte er auf den Jungen los und fuhr gerade gegen das Messer, so daß es ihm durch das Auge ins Gehirn eindrang. Der Junge zog schnell das Messer zurück, Wind-Eile schlug aber nur noch mit den Flügeln, dann sank er um und war tot.
»Wind-Eile ist tot! Der Fremde hat unsern Häuptling, Wind-Eile, getötet!« riefen die Krähen, die zunächst standen, und dann entstand ein entsetzlicher Spektakel. Einige jammerten, andere riefen nach Rache. Alle liefen oder flatterten sie auf den Jungen zu, mit Fumle-Drumle an der Spitze. Aber der tat wieder, als sei er ganz töricht. Er flatterte nur mit ausgebreiteten Flügeln über dem Jungen und hinderte die anderen, ihre Schnäbel in ihn zu bohren.
Der Knabe hatte ein Gefühl, als befinde er sich in einer schlimmen Lage. Er konnte den Krähen nicht entkommen, und da war kein Ort, wo er sich hatte verbergen können. Aber dann fiel ihm die tönerne Kruke ein. Er zog kräftig an dem Deckel und riß ihn herunter. Dann sprang er in die Kruke hinein, um sich darin zu verstecken. Aber es war ein schlechtes Versteck, denn die Kruke war fast bis an den Rand mit dünnen Silbermünzen angefüllt. Der Junge konnte nicht tief genug hineinkommen. Da bückte er sich herab und fing an, die Silbermünzen herauszuwerfen.
Während der ganzen Zeit hatten die Krähen ihn in einem dichten Schwärm umflattert und nach ihm gehackt, sobald er aber anfing, das Silbergeld herauszuwerfen, vergaßen sie augenblicklich ihre Rachsucht und beeilten sich, es aufzufangen. Der Junge schleuderte das Geld mit vollen Händen heraus, und alle Krähen, ja, selbst Wind-Kaara, liefen danach. Und sobald eine so glücklich war, eine Münze zu ergattern, flog sie so schnell wie möglich nach ihrem Nest, um sie dort zu verstecken.
Als der Junge alles Silbergeld aus der Kruke herausgeworfen hatte, sah er auf. Da war nur noch eine einzige Krähe im Sandgraben zurückgeblieben, nämlich sein Freund Fumle-Drumle mit der weißen Feder im Flügel, die ihn getragen hatte. »Du hast mir einen größeren Dienst erwiesen, als du selber ahnst, Däumling,« sagte die Krähe mit einer ganz anderen Stimme und einem ganz andern Tonfall als bisher. »Ich will dir das Leben retten. Setze dich auf meinen Rücken, dann will ich dich nach einem Versteck bringen, wo du die Nacht in Sicherheit zubringen kannst. Morgen werde ich schon dafür sorgen, daß du zu den wilden Gänsen zurückkommst.«
Die Hütte.
Donnerstag, den 14. April.
Als der Junge am nächsten Morgen erwachte, lag er auf einem Bett. Sobald er sah, daß er sich zwischen Türen, mit vier Wänden um sich her und mit einem Dach über dem Kopf befand, glaubte er, daß er zu Hause sei. »Nun kommt Mutter wohl bald mit Kaffee,« murmelte er noch halb im Schlaf. Aber dann entsann er sich, daß er in einer leeren Hütte auf dem Krähenhügel war, und daß Fumle-Drumle mit der weißen Feder ihn am vorhergehenden Abend dahin gebracht hatte.
Der ganze Körper schmerzte dem Jungen nach der gestern zurückgelegten Reise, und er fand, es war angenehm, so still da zu liegen, während er auf Fumle-Drumle wartete, der versprochen hatte, zu kommen und ihn zu holen.
Vor dem Bett waren Gardinen von gewürfeltem Baumwollstoff, und er schob sie zur Seite, um sich in der Stube umzusehen. Er war sich gleich klar darüber, daß er ein Haus wie dieses noch nie im Leben gesehen hatte. Die Wände bestanden nur aus ein paar Reihen Balken, dann begann schon das Dach. Da war keine Decke, und er konnte ganz bis zum Dachrücken hinaufsehen. Das ganze Haus war so klein, daß, es eigentlich aussah, als wenn es eher für Wesen seiner Art gebaut sei, als für richtige Menschen, und doch waren der Feuerherd und die Mauer da herum so groß gemacht, daß er fand, er habe sie nie größer gesehen. Die Eingangstür lag an der einen Giebelwand neben dem Feuerherd und war so schmal, daß sie fast einer Luke ähnelte. An der andern Giebelwand sah er ein niedriges, breites Fenster mit vielen kleinen Fensterscheiben. Da waren fast keine beweglichen Möbel in der Stube. Die Bank an der einen Längsseite und der Tisch unter dem Fenster waren an den Wänden befestigt, ebenso das große Bett, in dem er lag, und der Wandschrank mit den bunten Blumen.
Der Knabe konnte es nicht lassen, darüber nachzusinnen, wem wohl dies Haus gehörte, und warum es leer stand. Es sah eigentlich so aus,