Mami Bestseller 12 – Familienroman. Gisela Reutling
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Sie trafen sich in einem Restaurant, und er sagte: »Es ist ein ungeschriebenes Gesetz bei uns, keinen Passagier vorzuziehen, deshalb konnte ich Ihnen unterwegs nicht zeigen, wie gut Sie mir gefielen, Frau Dr. Meinrad. Das möchte ich jetzt nachholen.« Dabei lachte er mit blitzenden Zähnen und übermütig funkelnden Augen.
»Sie gefielen mir auch«, bekannte Cornelia freimütig, in heiterem Ton. »Es ist sicher nicht leicht, Menschen verschiedenen Alters und Herkunft in Harmonie zusammenzuhalten.«
»Ja, ja, da könnte ich Ihnen so manche Anekdote erzählen …« Er tat es, und sie amüsierte sich. Es war entspannend, mit Markus Springer beisammen zu sein. Endlich einmal kein Gespräch über Krankheiten, kein Fachsimpeln wie bei gelegentlichen Kollegentreffs.
Das »Frau Doktor« ließ er bald fallen, sie kamen sich näher, und nach einigen Monaten, während derer sie sich manchmal getroffen hatten, schließlich sehr nahe.
Als Cornelias Gedanken bei diesem Punkt angelangt waren, setzte sie sich, schon auf dem Heimweg, auf eine Bank und sah sinnend über den Fluss. War es Liebe, was sie mit Markus verband?
Sie vermochte es weder zu bejahen noch zu verneinen. Es war nicht so, dass sie glaubte, ohne Markus nicht leben zu können, wie es ihr einst bei Dieter geschah. Da war es Liebe gewesen. Sie wollte nicht sagen die große, leidenschaftliche, sondern eben die Liebe, als eine unteilbare Größe. Wie hätte man denken können, dass sie vergehen würde?
Vielleicht war das andere besser, wenn man sich selbst bewahrte, nicht gänzlich im anderen aufging.
Sie nahm sich vor, Markus bald anzurufen und ihm zu sagen, dass sie sich auf ein baldiges Treffen mit ihm freute.
*
»Sie glauben, dass die Patientin simuliert?«, fragte Cornelia. »Aber als ich sie untersuchte, fühlte sich ihr Unterbauch hart und gespannt an, und sie klagte über Schmerzen. Ich habe daraufhin eine Uterographie veranlasst, die allerdings nichts ergab.«
»Nach meiner Ansicht ist die Frau hochgradig neurotisch«, erklärte der Oberarzt, der sich wie gewöhnlich noch mit der Nachtdienst tuenden Ärztin besprach. »Ich habe mit ihrem Hausarzt geredet, er ist derselben Ansicht. Frau Eckner ist seit Jahren bei ihm in Behandlung, wegen ständig wechselnder Beschwerden. Oft genug lässt sie ihn auch nachts zu sich rufen, mal ist es das Herz, mal der Magen, mal die Galle. Dabei sind die Organe gesund. Die Krankheiten, die sie zu haben glaubt, existieren nur in ihrer Einbildung.«
»Das verstehe ich nicht.« Kopfschüttelnd betrachtete Cornelia die Krankenblätter. Da gab es Verdacht auf Magengeschwüre und Gallensteine, ohne dass in einem einzigen wirklich eine Erkrankung nachgewiesen werden konnte. »Man gibt doch nicht vor, Schmerzen zu haben, wenn man keine hat.«
»Sie mag sie ja tatsächlich empfinden«, räumte Dr. Holl ein. »Nur dass deren Ursache nicht im organischen Bereich, sondern in der Seele liegt. – Sie sehen mich so erstaunt an, Frau Kollegin, in Ihrer kurzen Praxis ist ihnen wohl ein solcher Fall noch nicht vorgekommen?«
»Nicht in diesem Umfang, nein«, musste Cornelia zugeben. »Ich weiß natürlich, dass seelische Konflikte einen Körper belasten können. Aber über Jahre hindurch, und noch dazu bei einer verhältnismäßig jungen Frau! Wie alt ist sie genau?«, sie sah nach. »Zweiundvierzig«, stellte sie fest. »Das ist doch kein Alter …«
»Tja, man müsste herausfinden, wo die Wurzel allen Übels liegt.« Dr. Holl rieb sich die Nase, eine Angewohnheit, wenn er nachdachte. »Ich habe mich«, fuhr er fort, »bei Dr. Müller, also dem Hausarzt, auch nach ihren persönlichen Verhältnissen erkundigt. Sie ist verheiratet, der Mann ist Steuerberater, der einzige Sohn ist schon aus dem Haus. Weiter wusste er mir nichts darüber zu sagen, er ist wohl in seiner Praxis ziemlich überlastet.«
Sekundenlang schwiegen sie. Dann sah der Oberarzt seine jüngere Kollegin an. »Wollen Sie nicht mal mit Frau Eckner reden, Frau Meinrad?«, schlug er vor. »Mir ist nämlich schon aufgefallen, dass die Patientinnen Ihnen besonderes Vertrauen entgegenbringen. Wenn ich nur an dieses junge Ding denke, dem wir den Magen auspumpen mussten, weil es eine Überdosis Tabletten geschluckt hatte. Sie haben das Mädchen doch ordentlich wieder aufgebaut, nachdem es sich ihren Liebeskummer von der Seele geredet hatte.«
Cornelia nickte leicht. Es war die Kurzschlusshandlung einer Siebzehnjährigen gewesen. »Der Fall Eckner liegt wohl etwas anders«, zögerte sie.
»Sicher«, stimmte Dr. Holl ihr zu. »Versuchen könnten Sie es immerhin. – Ja, das wär’s dann wohl.«
Aber Cornelia hatte noch eine Frage. »Wie steht es mit Frau Berger auf Zimmer 11? Sie hat in den letzten Nächten kaum Ruhe gefunden.«
»Ich habe Schwester Anni schon gebeten, dass sie heute ein stärkeres Schlafmittel bekommen soll«, gab der Oberarzt zurück. »Wir haben die Biopsie vorgenommen …«, er stockte. Seine Miene verdüsterte sich.
»Und –?«, fragte Cornelia ahnungsvoll.
»Karzinose«, antwortete Dr. Holl kurz.
Cornelia zog scharf den Atem ein. Das bedeutete: Aussaat von Krebszellen im ganzen Körper. »So weit ist es also schon«, murmelte sie mit blassen Lippen. Es war zuerst nur ein Verdacht gewesen. Nun hatte er sich bestätigt.
»Sie hätte viel früher zu uns kommen müssen«, sagte der Arzt etwas schroff. »Wozu gibt es schließlich Vorsorgeuntersuchungen?«
Bedrückt trat Cornelia an diesem Abend ihren Nachtdienst an. Renate Berger hieß die junge Frau, der das Todesurteil gesprochen war. Im gleichen Alter wie sie, Anfang dreißig. Cornelia war noch weit davon entfernt, als Ärztin darüberzustehen. Sie lehnte sich noch ohnmächtig auf bei der Vorstellung, einfach nicht mehr helfen zu können. Sie nahm sich vor, zu ihr zu gehen, sobald anderes Wichtiges getan war.
Renate Berger lag in einem Zweibett-Zimmer am Fenster. Die andere Patientin war eine alte Dame, die ohne Hörgerät halb taub war. Mit einem Nicken erwiderte sie den freundlichen Gruß der eintretenden Ärztin und las weiter in ihrem Taschenbuchroman. Sie brauchte nichts mehr, auch keinen Zuspruch. Sie wurde sowieso in den nächsten Tagen entlassen. Cornelia zog sich einen Stuhl an das andere Bett. Auf dem Nachttisch lag noch das Schlafmittel, das Schwester Anni dahingelegt hatte.
»Ich nehme das nicht«, sagte die Patientin. »Ich will wach bleiben, Frau Doktor. Ich habe so viel zu bedenken, nachts, wenn die anderen schlafen und es ruhig ist auf der Station.«
»Ein paar Stunden Schlaf braucht aber jeder Mensch, Frau Berger«, wandte Cornelia behutsam ein. Dabei betrachtete sie das abgezehrte Gesicht der Kranken. Es musste einmal sehr hübsch gewesen sein, bevor die Krankheit es gezeichnet hatte.
Der blasse Mund verzog sich ein wenig, ihre Augen sahen zur Decke empor. »Ich werde bald genug lange schlafen können«, kam es wie ein Hauch zurück. Cornelia griff nach der schmalen Hand und umfasste sie. Aber bevor sie etwas sagen konnte, richtete sich der Blick der Patientin wieder auf sie. »Oder glauben Sie, ich wüsste nicht, dass ich bald sterben muss?«
»Woher wollen Sie das wissen?«, sprach Cornelia leise. »Über Leben und Sterben entscheiden nicht wir.«
»Ich weiß es«, beharrte die andere. »Ich spüre es in mir. Ich lese es in den Mienen der Ärzte, auch in Ihren Augen, Frau Doktor, und wenn Sie alle hundertmal glauben, sich zu beherrschen und mir mit Worten auszuweichen.«