Kehrseite der Geschichte unserer Zeit. Оноре де Бальзак

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Kehrseite der Geschichte unserer Zeit - Оноре де Бальзак

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Lächeln, das seinen roten Mund so liebenswürdig machte, wie das nur ein Malergenie erdenken kann, »kann man nicht vom tiefsten Mitleid ergriffen werden beim Anblick des Elends, das die Mauern von Paris umschließen? Bedurfte der heilige Vincent a Paula des Stachels von Gewissensbissen oder verletzter Eitelkeit, um sich der ausgesetzten Kinder zu erbarmen?«

      »Das verschließt mir um so mehr den Mund, als wenn jemals ein Geist dem dieses christlichen Helden ähnlich war, dies sicherlich der Ihrige ist«, antwortete Gottfried.

      Trotz der Unempfindlichkeit, die das Alter seiner gelblichen, runzeligen Gesichtshaut verliehen hatte, überzog eine tiefe Röte das Antlitz des Greises; denn es sah aus, als ob er dieses Lob provoziert hätte, woran er bei seiner allen bekannten Bescheidenheit nicht gedacht haben konnte. Gottfried wusste recht gut, dass die Hausgenossen der Frau de la Chanterie keinerlei Gefallen an solchem Weihrauch fanden. Trotzdem war die außergewöhnliche Bescheidenheit des guten Alain von diesem Skrupel mehr beunruhigt als ein junges Mädchen von irgendeinem schlimmen Gedanken.

      »Wenn ich auch noch sehr weit hinter seiner moralischen Höhe zurückstehe«, bemerkte Herr Alain, »so bin ich ihm wenigstens in meinem äußern ähnlich ...«

      Gottfried wollte etwas erwidern, aber er wurde daran durch eine Bewegung des Alten gehindert, dessen Nase in der Tat so knollig wie die des Heiligen war, und dessen Antlitz, ähnlich dem eines alten Weinbergsarbeiters, wie ein Duplikat des gewöhnlichen runden Gesichts des Begründers der Findelhäuser aussah.

      »Was mich anlangt, so haben Sie recht,« fuhr er fort; »meine Berufung zu unserm Werke wurde entschieden durch ein Gefühl der Reue, aus Anlass eines Abenteuers ...«

      »Sie, und ein Abenteuer?« rief Gottfried leise aus, den dieses Wort das, was er dem Alten zuerst antworten wollte, vergessen ließ.

      »Oh, wahrhaftig, was ich Ihnen erzählen werde, wird Ihnen gewiss als eine Kleinigkeit, als etwas Unerhebliches erscheinen; aber vor dem Richterstuhl des Gewissens steht es anders damit. Wenn Sie bei Ihrem Wunsche, an unserer Arbeit teilzunehmen, verharren werden, nachdem Sie mich angehört haben, dann werden Sie begreifen, dass das Gefühl im Verhältnis zu der Seelenstärke steht, und dass ein Geschehnis, das einen starken Geist nicht beunruhigt, sehr wohl das Gewissen eines schwachen Christen bedrücken kann.«

      Man kann sich schwer vorstellen, welchen Grad die Neugierde des Neophyten nach dieser Art von Vorrede erreicht hatte. Was konnte das Verbrechen dieses Biedermanns sein, den Frau de la Chanterie ihr »Osterlamm« nannte? Das musste ebenso interessant sein wie ein Buch mit dem Titel: »Die Verbrechen eines Lammes.« Vielleicht sind die Lämmer grausam gegen die Kräuter und Blumen? Nach der Meinung eines der gemäßigtsten Republikaner dieser unserer Zeit ist auch der beste Mensch immer noch grausam gegen irgend etwas. Aber der gute Alain! Er, der, wie der Onkel Tobias Sternes, eine Fliege, die ihn zwanzigmal gestochen hatte, nicht töten konnte. Und diese edle Seele war von Reue gefoltert!

      Diese Überlegung füllte die Pause aus, die der Greis nach den Worten: »Hören Sie mich an!« machte, während er sein Kissen Gottfried unter die Füße schob, damit er es mit ihm teile.

      »Ich war damals etwas über dreißig Jahre alt«, sagte er, »es war im Jahre 98, wie mir erinnerlich ist, eine Zeit, wo junge Leute die Erfahrung Sechzigjähriger haben mussten. Eines Morgens um neun Uhr, kurz vor meinem Frühstück, meldet mir meine alte Wirtschafterin einen der wenigen Freunde, die ich mir inmitten der Revolutionsstürme noch erhalten hatte. Mein erstes Wort war daher, ihn zum Frühstück einzuladen. Mein Freund, er hieß Mongenod, ein junger Mann von achtundzwanzig Jahren, nahm an, aber sichtlich bedrückt; ich hatte ihn seit dem Jahre 1793 nicht gesehen ...«

      »Mongenod? ...« rief Gottfried aus, »der ...«

      »Wenn Sie das Ende vor dem Anfang erfahren wollen,« bemerkte der Alte lächelnd, »wie soll ich Ihnen dann meine Geschichte erzählen?«

      Gottfried machte ein Zeichen, das absolutes Stillschweigen versprach.

      »Als Mongenod sich gesetzt hatte,« fuhr der gute Alain fort, »bemerkte ich, dass seine Schuhe furchtbar abgenutzt waren. Seine getüpfelten Strümpfe waren so oft gewaschen worden, dass ich sie nur mit Mühe als seidene erkennen konnte. Sein aprikosenfarbenes Kaschmirbeinkleid, das jede Frische verloren hatte, zeigte, wie lange es getragen war, was noch durch die verblichene Farbe an den am meisten gefährdeten Stellen bezeugt wurde, und die Schnallen schienen mir, statt von Stahl, von gewöhnlichem Eisen zu sein; die der Schuhe zeigten das gleiche Metall. Seine weiße geblümte Weste, die vom Tragen gelb geworden, wie sein Hemd, dessen steifes Jabot zerknittert war, verrieten ein schreckliches, aber verheimlichtes Elend. Das Aussehen seiner Huppelande (so nannte man damals einen Überzieher mit nur einem Kragen, nach Art eines Mantels à la Crispin) vollendete bei mir den Eindruck, dass mein Freund ins Unglück geraten war. Dieser außerordentlich schäbige Mantel von nussbraunem Tuch, der aufs peinlichste abgebürstet war, hatte einen von Pomade oder Puder befleckten Kragen und rot gewordene Metallknöpfe. Der ganze schäbige Anzug war so jammervoll, dass ich ihn nicht länger zu betrachten wagte. Sein Klapphut, eine Art halbrunder Filz, den man damals nicht auf dem Kopf, sondern unter dem Arm zu tragen pflegte, musste schon mehrere Regierungen erlebt haben. Trotzdem musste mein Freund eben einige Sous bei einem Barbier ausgegeben haben, denn er war frisch rasiert. Und sein Haar, hinten zusammengenommen, mit einem Kamm festgehalten und stark gepudert, roch nach Pomade. Ich nahm auch zwei parallele Uhrketten aus matt gewordenem Stahl an seiner Hose wahr, aber keine Spur einer Taschenuhr an seiner Westentasche. Es war Winter, und Mongenod besaß keinen warmen Mantel, denn mehrere dicke Tropfen von geschmolzenem und von den Dächern, an denen er entlang gegangen sein musste, herabgefallenem Schnee rannen von dem Kragen seiner Huppelande herunter. Als er seine Handschuhe von Kaninchenfell auszog, sah ich au seiner rechten Hand die Spuren von Arbeit, aber von mühseliger Arbeit. Sein Vater, Advokat beim Großen Rat, hatte ihm einiges Vermögen hinterlassen, das ihm eine Rente von fünf bis sechstausend Franken abwarf. Ich begriff sofort, dass Mongenod gekommen war, um mich anzuborgen. Ich besaß in einem Versteck zweihundert Louisdor, eine für die damalige Zeit enorme Summe, denn sie betrug ich weiß nicht wie viele hunderttausend Franken Assignaten. Mongenod und ich hatten dieselbe Schule besucht, bei den Grassins, und uns dann bei demselben Anwalt wiedergefunden, einem ehrenwerten Manne, dem guten Bordin. Wenn man seine Jugend mit einem Kameraden zusammen verbracht und die gleichen Jugendtorheiten gemacht hat, so entsteht eine nahe, fast geheiligte Sympathie zwischen ihm und uns, seine Stimme, sein Blick schlagen gewisse Saiten in unserm Herzen an, die nur unter dem Eindruck der dabei wiedererwachenden Erinnerungen erklingen. Wenn man auch Grund zur Klage über einen solchen Kameraden hat, so sind damit doch noch nicht alle Freundschaftsrechte verjährt. Aber es hatte zwischen uns auch nicht die geringste Entzweiung stattgefunden. Beim Tode seines Vaters im Jahre 1787 war Mongenod reicher als ich; wenn ich auch nie etwas von ihm geliehen hatte; so hatte ich ihm doch gewisse Annehmlichkeiten zu verdanken, die die väterliche Strenge mir versagte. Ohne meinen freigebigen Kameraden hätte ich die erste Vorstellung von ›Figaros Hochzeit‹ nicht sehen können. Mongenod war damals, was man einen scharmanten Kavalier nannte, er hatte auch galante Abenteuer; ich hatte an ihm zu tadeln, dass er zu leicht Freundschaft schloss und zu entgegenkommend war; seine Börse stand andern zu leicht offen, er lebte auf großem Fuße, er hätte jedem als Sekundant gedient, den er nur zweimal gesehen hatte ... – Ach, Sie haben mich da auf die Wege meiner Jugend zurückgelockt«, rief der gute Alain aus, sah Gottfried lustig lächelnd an und machte eine Pause.

      »Sind sie mir deshalb böse?« sagte Gottfried.

      »Ach nein! Aber an der Ausführlichkeit meiner Erzählung können Sie sehen, welche Rolle dieses Ereignis in meinem Leben gespielt hat ... Mongenod, ein vortreffliches Herz und ein mutiger Mann, ein wenig Voltairianer, war geschaffen, als vornehmer Herr aufzutreten«, fuhr Alain in seiner Erzählung fort; »seine Erziehung bei den Grassins, wo er mit adligen Kameraden zusammen aufwuchs, und seine galanten Beziehungen hatten ihm das abgeschliffene Auftreten der Leute, die man damals Aristokraten nannte,

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