Klienten kennenlernen – Diagnosen dynamisch utilisieren. Krzysztof Klajs
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»Einmal pro Woche ging ich zu meiner eigenen Therapie. Dies war langwierig. Es hat sich nichts geändert, wir haben viel analysiert – vor allem die Vergangenheit. Ich war sehr frustriert. Ich hatte den Eindruck, meine Therapeutin ebenso. Einmal sagte sie: ›Eric, ich habe eine gute Nachricht für dich, in drei Monaten gehe ich in Rente. Ich habe nicht die Absicht, auch nur einen Tag länger zu arbeiten. Um dich zu ändern, bräuchte man wahrscheinlich eine Atombombe.‹ Ich ging nach Hause. Die Worte der Therapeutin ließen mir keine Ruhe und zum ersten Mal dachte ich darüber nach, was ich selbst von der Therapie erwartete. In den nächsten drei Monaten machte ich mehr, als in den vorhergehenden sieben Jahren« (Greenleaf 2015).
Das hier beschriebene Beispiel illustriert auch gut, welche Rolle die Motivation im Veränderungsprozess spielt. Dieser Frage widmet sich Kapitel 6.
Martin Seligmann (2009) betont, dass die Vergangenheit in der Psychotherapie auch deshalb überbewertet wird, weil wissenschaftliche Instrumente fehlen, um mögliche zukünftige Ereignisse vorherzubestimmen, während umgekehrt unzählige Untersuchungen dazu existieren, wie Ereignisse aus der Vergangenheit das spätere Funktionieren beeinflussen.
All denen, die mit Kindern, Jugendlichen und Familien zusammenarbeiten, dürften die Schwierigkeiten, die dabei auftreten, wenn man sich auf ein Individuum konzentriert, wohlvertraut sein. Im Entwicklungsprozess lässt sich keine Störung als Norm oder Krankheit an sich beschreiben, alles muss im Kontext der Familie und der Situation betrachtet werden. Manchmal weicht das Verhalten eines Kindes, das laut psychiatrischer Diagnose als krank gilt, im Schulalltag überhaupt nicht vom Verhalten der anderen Kinder ab. Das Kind erzielt gute Leistungen und zeigt keinerlei Auffälligkeiten. Dagegen verhält es sich zu Hause und außerhalb der Schule aggressiv oder autoaggressiv. Ärzte und Lehrer können den Erzählungen der Eltern kaum glauben. Natürlich gibt es auch die umgekehrte Variante: Das Kind verhält sich zu Hause völlig unauffällig, zeigt jedoch im schulischen Umfeld ein von seinen Altersgenossen derart abweichendes Verhalten, dass es bei den Pädagogen Besorgnis und Unruhe hervorruft. Die Eltern dagegen sind erstaunt, was die Lehrer über ihr Kind zu berichten haben. Ohne den situationsbedingten und sozialen Kontext ist dies nur schwer zu verstehen. Jay Haley beschreibt Erfahrungen von Therapeuten, die mit Familien zusammenarbeiten, folgendermaßen:
»Die Symptome einer einzelnen Person sind adäquat zur aktuellen Familiensituation. Das ist ein überzeugendes Argument dafür, diese Situation zu ändern« (Elkaim 2007, p. 138).
Hier ist eine Diagnose erforderlich, die das gesamte familiäre System einbezieht.
Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob die Diagnose bei einer, zwei oder mehreren Personen gestellt werden soll, die zur selben Zeit leiden und derselben Familie angehören. Sobald der Therapeut gezwungen ist, einen breiteren Kontext als nur den einer Einzelperson zu berücksichtigen, stellt sich die Frage, was in den Diagnoserahmen fällt: Die Familie, ein über die Familie hinausgehendes System, oder auch die gegenseitigen Beziehungen zwischen diesen beiden Elementen.
1.3Diagnose und Suggestion
»Möchten Sie den Klienten bereits bei der zweiten Therapiesitzung zu seiner Vergangenheit befragen, dann sollten Sie dafür einen wirklich triftigen Grund haben.«
Norma Barretta
Die Beziehung zwischen der Person, die die Diagnose stellt und der Person, bei der die Diagnose gestellt wird, ordnet sich in einen breiteren Kontext hinsichtlich der Beziehung von Beobachter und beobachtetem Objekt ein. Auf der einen Seite dieser Beziehung steht die Forderung, dass der Beobachter dem beobachteten Objekt gegenüber neutral bleiben sollte, dass er nicht modifiziert und keinerlei Einfluss nimmt, sondern ausschließlich registriert.
Auf der anderen Seite dagegen steht die Überzeugung, dass durch den bloßen Fakt der Interaktion Beobachter und beobachtetes Objekt in einer solch starken Beziehung zueinander stehen, dass sie ohne einander gar nicht existieren würden. Die Position eines objektiven Beobachters, der keinen Einfluss auf den beobachteten Raum nimmt, ist somit reine Illusion. Die heisenbergsche Unschärferelation sagt aus, dass man Eigenschaften von Objekten unmöglich definieren kann, solange keine Beobachtung erfolgt. Dieses Prinzip gilt zwar für die Quantenphysik, kann aber auch hier als sinnvolle Metapher dienen. Der Therapeut, der den Klienten kennenlernt und beschreibt, beeinflusst den Klienten und wird gleichzeitig auch selbst von ihm beeinflusst.
Ähnlich ist auch die Musik nicht nur eine präzise Aufzeichnung von Noten, sondern eine subjektiv erlebte innere Erfahrung des Zuhörers. So sind die Erfahrungen zweier Personen, die dasselbe Musikstück gehört haben, in ihrem Wesen nicht miteinander vergleichbar. Ein jeder erlebt die Musik individuell. So verleiht allein der Empfänger – durch den bloßen Akt des Zuhörens – den Tönen einen einzigartigen inneren Klang (Botstein 2014). Ebenso behaupten viele Künstler, die im Bereich der bildender Kunst tätig sind, dass ihre Arbeit lediglich den Rahmen darstellt, den Ausgangspunkt für einen Dialog mit dem Empfänger. Ohne diesen Dialog existiert die Arbeit nicht. Der Betrachter belebt das Bild durch seine ganz individuelle Wahrnehmung, er verleiht dem Werk einen eigenen und einmaligen Ausdruck. Da jeder Betrachter eine andere Sichtweise hat, kann niemals nur von einem Kunstwerk gesprochen werden, vielmehr existieren so viele Werke, wie es Betrachter gibt (Rottenberg 2016).
Der Diagnoseprozess kann auch als Raum zwischen zwei Polen betrachtet werden: Zwischen dem Pol der völligen Neutralität des Therapeuten und dem Pol einer absoluten Abhängigkeit beider Seiten voneinander.
Trägt der Therapeut Informationen zum Klienten zusammen, so ist er weder objektiv noch neutral. Unmöglich ist aber auch, dass der Therapeut am entgegengesetzten Pol verweilt, an dem beide Seiten des Diagnoseprozesses – der Therapeut und der Klient – in einem Maße voneinander abhängig sind, das ein Kennenlernen der jeweils anderen Person ausschließt. Der Klient existiert schließlich unabhängig vom Therapeuten und der Therapeut unabhängig vom Klienten. Sowohl die Beschwerden als auch das gesundheitsförderliche Potenzial der erkrankten Person existieren unabhängig davon, ob sich diese im Diagnose- und Therapieprozess befindet oder nicht.
Begegnen sich unterschiedliche Personen und treten in eine Interaktion miteinander, beeinflussen sie sich gegenseitig. Lernt der Therapeut eine Person mit Beschwerden kennen, sollte er sich dessen bewusst sein, dass beim Diagnoseprozess und durch die Diagnose, die gestellt wurde, immer eine Einflussnahme auf den Klienten stattfindet. Dieser Einfluss zeigt sich auf unterschiedliche Art.
Ein Teil der Informationen, auf deren Grundlage die Diagnose gestellt wird, stammt aus den Antworten des Klienten auf die Fragen, die ihm gestellt wurden. Jede Frage, jede Intervention des Therapeuten steuert die Aufmerksamkeit des Klienten und übt somit Einfluss auf ihn aus. Die Psychotherapie kann als Prozess beschrieben werden, der die Aufmerksamkeit des Klienten in Richtung Gesundheit lenkt. In jeder Frage des Therapeuten ist eine Suggestion enthalten, zumindest die Suggestion, dass das, wonach der Therapeut fragt, wichtig für die Therapie ist. Wenn viele Fragen zur Vergangenheit gestellt werden, wird damit suggeriert, das frühere Geschehnisse eine grundlegende Bedeutung für Gesundheit und Heilung haben. Stellt der Therapeut Fragen zur Familie und zu Beziehungen zu nahestehenden Personen, dann lautet die unterschwellige Suggestion, dass familiäre und systemische Aspekte wichtig sind. Fragen zur Sexualität suggerieren, dass dieser Bereich von Bedeutung ist, Fragen zu Gefühlen unterstreichen die Wichtigkeit von Emotionen und Fragen zum Verständnis die Bedeutung kognitiver Prozesse. Genauso verhält es sich, wenn der Therapeut bestimmte Dinge nicht erfragt, dazu schweigt oder auf ein vom Klienten angesprochenes Thema nicht weiter eingeht. Damit sendet der Therapeut die Botschaft, dass dieses Gebiet nicht so wichtig sei. Spätestens mit der ersten Frage,