Ängste von Kindern und Jugendlichen – Das Elternbuch. Wilhelm Rotthaus

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Ängste von Kindern und Jugendlichen – Das Elternbuch - Wilhelm Rotthaus

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in der Frühe wach, schreit, ist nass geschwitzt und weiß nicht, wo sie ist, bis ihre Mutter oder ihr Vater das Licht anmachen. Sie drängt ins Bett der Eltern. Dort auf ihren Traum angesprochen, erinnert sie sich: Sie musste um ihr Leben rennen, wurde verfolgt von einer Gestalt, die sie in ein dunkles Tuch wickeln und wegtragen wollte. Leonie stolperte, fiel zu Boden, fühlte schon die Hand des unheimlichen Mannes – und wachte auf.

      Fast die Hälfte der Kinder zwischen sechs und elf Jahren haben gelegentlich Albträume, 5 % sogar einmal pro Woche. Bis zur Pubertät leiden Jungen und Mädchen gleich häufig an Albträumen. Danach verschiebt sich das Verhältnis deutlich, und die Mädchen werden dreimal häufiger von angstmachenden nächtlichen Träumen heimgesucht. Aber solange das seltener als einmal die Woche geschieht und die Kinder keine Angst vor dem Einschlafen haben, besteht noch kein Grund zur Sorge. Albträume tauchen meist in der zweiten Nachthälfte auf.

      Wenn die Kinder aus dem Traumschlaf aufschrecken, erinnern sie sich fast immer lebhaft an die gerade durchlebten Emotionen und Bilder. Solche Angstträume handeln oft davon, dass sie von einer mächtigen Person verfolgt werden. In rund der Hälfte aller Albträume flüchten die Schlafenden und drohen, ins Bodenlose zu stürzen. Die bedrohlichen Figuren sind in der Regel menschlicher Natur; Tiere oder Fantasiewesen wie Monster und Hexen tauchen seltener auf. Der häufigste Auslöser von Albträumen ist offenbar Stress etwa in der Familie, in der Schule oder im Freundeskreis. Tatsächlich kommen in Träumen oft Erlebnisse des vergangenen Tages vor.

      Häufig mit Albträumen verwechselt wird der Pavor nocturnus, auch »nächtliches Aufschrecken« genannt. Er tritt üblicherweise im Tiefschlaf etwa eine Stunde nach dem Einschlafen auf – oft begleitet von einem Schrei. Die Eltern finden das Kind nicht selten im Bett aufrecht sitzend vor mit erhitztem Gesicht und in Schweiß gebadet. Es kann nicht über Angsterlebnisse berichten, äußert sich höchstens bruchstückhaft und unvollständig. Die Beruhigungsversuche der Eltern scheint es zunächst gar nicht wahrzunehmen. Wenn es dann aufwacht, blickt es erstaunt umher, ist verwirrt und kann sich an keine bösen Träume erinnern. Meist beruhigt es sich schnell und kann dann weiterschlafen.

      2ANGSTSTÖRUNGEN VERSTEHEN

      Die Kooperation des Angstzentrums mit der vorderen Hirnregion

      Im Gehirn arbeiten bestimmte Regionen eng zusammen, die für die Sicherheit und das Überleben des Menschen sorgen. Dabei handelt es sich zum einen um das Angstzentrum (die Amygdala), das mit einem nahe gelegenen Bereich des Gehirns (dem Hippocampus) kooperiert, in dem Erinnerungen gespeichert werden. Wird von dem Menschen eine bestimmte Situation wahrgenommen, wird seitens des Angstzentrums mit diesem Bereich blitzschnell abgleichen, ob es sich dabei um einen mehr oder weniger vertrauten Reiz handelt oder um etwas völlig Unbekanntes oder auch Gefährliches. Ist Letzteres der Fall, wird im Bruchteil eines Bruchteils einer Sekunde eine Notfallreaktion ausgelöst, um den Menschen in kürzester Zeit optimal für einen Kampf oder eine Flucht vorzubereiten.

      In den meisten Fällen allerdings wird die Erregung zur vorderen Hirnregion (dem präfrontalen Kortex) weitergeleitet, die die Aufgabe hat, in etwas ruhigerer Beurteilung, aber auch noch im Bruchteil einer Sekunde die Situation als bekannt oder unbekannt, gefährlich oder ungefährlich einzuschätzen. Kommt diese Hirnregion zu der Überzeugung, dass die Situation ungefährlich ist, werden hemmende Signale zum Angstzentrum gesendet, damit wieder Beruhigung eintritt. Erscheint die Sache zwar nicht lebensbedrohend, aber doch möglicherweise gefährlich, wird ein gewisses Maß an Angst aufrechterhalten, um den Menschen zu einem vorsichtigen Verhalten zu veranlassen.

      Bemerkenswert ist, dass der präfrontale Kortex die Hirnregion ist, die am spätesten ausreift – häufig erst im jungen Erwachsenenalter. Dieser neurologische Befund erklärt die bekanntermaßen oft heftigen Gefühlsschwankungen im Jugendalter, die eine noch geringe Kontrolle durch den präfrontalen Kortex erfahren.

      Angst – unser Freund und Helfer

      Wenn man selbst oder sein Kind unter einem Zuviel von Angst leidet, dann kann man sich schwer vorstellen, dass Angst unser bester Freund und Helfer sein soll. Aber tatsächlich ist Angst das wichtigste Gefühl, das Menschen – wie alle Lebewesen – haben. Es veranlasst sie, gefährliche Dinge nur mit großer Aufmerksamkeit auszuführen, und bewahrt sie davor, ein Verhalten zu zeigen, das lebensgefährlich ist. Hätten unsere Kinder keine Angst, würden sie ohne Vorsichtsmaßnahmen auf hohe Mauern oder Bäume steigen oder auf die Straße laufen, ohne rechts und links zu schauen. Manchmal wird die Angst allerdings zu groß. Sie verhindert dann normale, ganz und gar nicht gefährliche Verhaltensweisen und löst viel Leid sowohl bei dem Kind als auch in der Folge bei den Eltern aus.

      Schon vor zigtausend Generationen hat die Angst den Menschen im Kampf ums Überleben unterstützt und geschützt. Das geschieht, wenn unser Gehirn – wie oben dargestellt – in einem Bruchteil eines Bruchteils einer Sekunde zu der Überzeugung kommt, die Situation, in der sich ein Mensch befindet, könnte lebensgefährlich sein oder werden. Es wird dann eine Kaskade körperlicher Reaktionen ausgelöst, um den Körper in optimaler Weise auf Kampf oder Flucht vorzubereiten. Dieses Programm ist in allen Menschen – wahrscheinlich in ähnlicher Weise in allen Lebewesen – seit »ewigen Zeiten« fest verankert, und die meisten Menschen haben diese körperlichen Symptome in Augenblicken heftiger Angst bereits erlebt: Das Herz fängt an zu rasen und »schlägt bis zum Hals«, die Atmung wird schneller, was auch als Atemnot empfunden werden kann, die Muskeln werden angespannt, die »Knie schlottern«, wenn das Zittern der Muskeln Wärme produziert, und die Körpertemperatur steigt, sodass der Mensch anfängt zu schwitzen. Diese Reaktionen dienen dazu, den Körper in Gefahrensituationen auf Kampf oder Flucht vorzubereiten.

      Angst als Signal für einen anstehenden Entwicklungsschritt

      Angst schützt aber nicht nur, sondern sorgt auch für Entwicklung. Sie tritt auf, wenn sich beispielsweise einem Kind neue Aufgaben stellen, die seine Fähigkeiten herausfordern oder aber die Weiterentwicklung vorhandener Fähigkeiten verlangen. Das Kind erlebt dann Stress und Anspannung, was sich in dem Augenblick nicht angenehm anfühlt. Aber wenn die Herausforderung bewältigt wird, sind die Zufriedenheit und der Stolz umso größer. Allerdings kann es auch hier geschehen, dass die Angst und der damit einhergehende Stress ein so großes Ausmaß erreichen, dass die Fähigkeiten zum aktiven Handeln weitgehend blockiert und die Aufgaben nicht bewältigt werden.

      Die neurobiologische Wissenschaft lehrt uns, dass Angst im Laufe unserer Stammesgeschichte der Motor war, wenn die Menschen gezwungen wurden, neue Entwicklungsschritte zu gehen. Kam es zu mehr oder weniger dramatischen Änderungen in der Umwelt des Menschen, verwies die Angst darauf, dass die bisherigen Bewältigungskompetenzen nicht mehr ausreichten und neue Fähigkeiten und Fertigkeiten entwickelt werden mussten. Wenn dies gelang, kam es zu einem Zuwachs an Kompetenzen. Zuweilen allerdings waren die Anpassungsanforderungen so groß, dass alte Verschaltungsmuster im Gehirn zunächst abgebaut werden mussten, um neue aufbauen zu können. Solche Umbauprozesse werden durch große Angst und den damit einhergehenden Stress begünstigt. Diese sehr belastenden Stressreaktionen sind zuweilen erforderlich, damit Menschen sich ändern und neuen Anforderungen anpassen können.

      Als Botschaft seines Buches Biologie der Angst formuliert der Neurobiologe Gerald Hüther1:

       »Die Angst ist ein Signal, das im Gehirn entsteht und sich im ganzen Körper ausbreitet, wenn etwas nicht stimmt. Und wir brauchen diesen Schutzmechanismus, damit wir rechtzeitig die Kurve kriegen und unser Leben verändern. Hätten wir keine Angst, dann könnten wir auch nicht lernen, was wir anders als bisher machen müssen. Die Angst ist also nicht unser Feind, sondern unser Freund – manchmal ziemlich bedrohlich, aber bisweilen braucht es eben einen etwas kräftigeren

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