Krieg und Frieden. Лев Толстой
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»Du denkst wohl, daß ich alter Mann die jetzige Situation nicht verstehe?« schloß er. »Doch, doch; siehst du, das kommt daher: ich schlafe nachts wenig. Also, wie steht es denn nun mit deinem großen Feldherrn? Wo hat er sich als solcher gezeigt?«
»Das läßt sich nicht so kurz sagen«, antwortete der Sohn.
»Dann geh nur hin zu deinem Bonaparte. Mademoiselle Bourienne, da ist noch ein Bewunderer Ihres Helden, dieses Kaiser gewordenen Troßknechtes!« rief er auf französisch in bester Aussprache.
»Sie wissen, Fürst, daß ich keine Bonapartistin bin.«
»Dieu sait quand reviendra ...«, sang der Fürst; sein Singen klang falsch, aber sein Lachen noch falscher; dann stand er vom Tisch auf und ging hinaus.
Die kleine Fürstin hatte während des ganzen Streites geschwiegen und ängstlich bald die Prinzessin Marja, bald ihren Schwiegervater angesehen. Als sie vom Tisch aufgestanden waren, schob sie ihren Arm in den ihrer Schwägerin und ging mit ihr in ein anderes Zimmer.
»Was ist dein lieber Vater doch für ein geistvoller Mann!« sagte sie. »Das wird auch wohl der Grund sein, weshalb er mir solche Furcht einflößt.«
»Ach, er ist so gut, so gut!« erwiderte die Prinzessin.
XXVIII
Am folgenden Tag abends wollte Fürst Andrei abreisen. Der alte Fürst war, ohne von seiner Tagesordnung abzuweichen, nach dem Mittagessen auf sein Zimmer gegangen. Die kleine Fürstin befand sich bei ihrer Schwägerin. Fürst Andrei, in einem Reiserock ohne Epauletten, beschäftigte sich in den ihm angewiesenen Zimmern unter Beihilfe seines Kammerdieners mit Packen, besichtigte dann persönlich die Kalesche, revidierte, ob die Koffer ordentlich aufgeladen waren, und befahl anzuspannen. Im Zimmer waren nur noch diejenigen Sachen zurückgeblieben, die Fürst Andrei immer bei sich führte: eine Schatulle, ein großes, silbernes Reisenecessaire, zwei türkische Pistolen und ein türkischer Säbel, ein Geschenk seines Vaters, der diese Waffen als Beutestücke von der Erstürmung von Otschakow mitgebracht hatte. Alle diese Reiseutensilien hielt Fürst Andrei gut in Ordnung: alles war sauber, wie neu, und steckte in Tuchfutteralen, die sorgsam mit Bändern zugebunden waren.
Im Augenblick einer Abreise, mit der eine Veränderung der Lebensgestaltung verbunden ist, überkommt alle Menschen, die ihre Handlungen zu überdenken fähig sind, gewöhnlich eine ernste Stimmung; sie pflegen in einem solchen Augenblick einen prüfenden Rückblick auf die Vergangenheit zu werfen und Pläne für die Zukunft zu machen. Fürst Andreis Miene war sehr nachdenklich und mild. Die Hände auf den Rücken gelegt, ging er im Zimmer schnell von einer Ecke nach der andern, blickte gerade vor sich hin und wiegte tief in Gedanken den Kopf. War ihm bange davor, in den Krieg zu gehen? Schmerzte ihn die Trennung von seiner Frau? Vielleicht sowohl das eine wie das andere; aber da er anscheinend nicht wünschte, von jemand in dieser Stimmung gesehen zu werden, nahm er, sowie er Schritte auf dem Flur hörte, eilig die Arme vom Rücken, blieb beim Tisch stehen, als ob er damit beschäftigt sei, den Überzug der Schatulle zuzubinden, und gab seinem Gesicht den gewöhnlichen, ruhigen, undurchdringlichen Ausdruck. Es waren die schweren Schritte der Prinzessin Marja.
»Man sagt mir, daß du Befehl zum Anspannen gegeben hast«, begann sie ganz außer Atem (sie war offenbar rasch gelaufen), »und ich wollte so gern noch mit dir ein paar Worte unter vier Augen sprechen. Gott weiß, auf wie lange Zeit wir uns wieder trennen. Du bist mir doch nicht böse, daß ich hergekommen bin? Du hast dich sehr verändert, Andruscha1«, fügte sie wie zur Erklärung dieser Frage hinzu.
Sie lächelte, als sie das Wort Andruscha aussprach. Augenscheinlich war es ihr selbst ein sonderbarer Gedanke, daß dieser ernste, schöne Mann jener selbe Andruscha sein sollte, jener magere, ausgelassene Knabe, der Gespiele ihrer Kindheit.
»Wo ist denn Lisa?« fragte er, indem er auf ihre Frage nur mit einem Lächeln antwortete.
»Sie war so müde, daß sie in meinem Zimmer auf dem Sofa eingeschlafen ist. Ach, Andrei! Welch einen Schatz besitzt du an dieser Frau«, sagte sie und setzte sich ihrem Bruder gegenüber auf das Sofa. »Sie ist noch vollständig ein Kind, und ein so liebenswürdiges, heiteres Kind. Ich habe sie sehr liebgewonnen.«
Fürst Andrei schwieg; aber die Prinzessin bemerkte den ironischen, geringschätzigen Ausdruck, den sein Gesicht angenommen hatte.
»Aber mit ihren kleinen Schwächen muß man Nachsicht haben; wer hätte keine Schwächen, Andrei! Vergiß nicht, daß sie mitten im Getriebe des gesellschaftlichen Lebens aufgewachsen und erzogen ist. Und dann ist auch ihre Lage jetzt keine rosige. Man muß sich in die Lage eines jeden hineinversetzen. ›Alles verstehen heißt alles verzeihen.‹ Bedenke nur, wie schwer es der Ärmsten nach dem Leben, das sie gewohnt war, werden muß, sich von ihrem Mann zu trennen und so allein auf dem Land zu bleiben, und noch dazu in ihrem Zustand. Das ist eine sehr schwere Aufgabe.«
Fürst Andrei lächelte, während er seine Schwester ansah, so wie man zu lächeln pflegt, wenn man Menschen reden hört, die man bis auf den Grund ihrer Seele zu kennen glaubt.
»Du lebst ja doch auch auf dem Land und findest dieses Leben nicht so schrecklich«, sagte er.
»Mit mir ist das eine andere Sache. Von mir ist da weiter nicht zu reden. Ich wünsche mir kein anderes Leben und kann es mir auch gar nicht wünschen, weil ich ein anderes Leben eben nicht kenne. Aber bedenke, Andrei, was das für eine junge Frau, die am gesellschaftlichen Leben ihre Freude gehabt hat, besagen will, wenn sie sich in den besten Jahren des Lebens auf dem Land vergraben soll. Und allerdings wird sie sich hier sehr einsam fühlen; denn Papa ist immer beschäftigt, und ich –: du kennst mich, wie wenig ich einer Frau zu bieten vermag, die an bessere Gesellschaft gewöhnt ist. Nur Mademoiselle Bourienne ...«
»Sie mißfällt mir recht sehr, eure Mademoiselle Bourienne«, sagte Fürst Andrei.
»O nicht doch! Sie ist sehr lieb und gut, und was die Hauptsache ist, sie ist ein bedauernswertes Mädchen. Sie hat so gar niemand, keinen Menschen. Die Wahrheit zu sagen, ich habe gar nicht das Bedürfnis, sie um mich zu haben; es ist mir sogar oft peinlich. Ich bin, wie du weißt, immer etwas menschenscheu gewesen und bin es jetzt in noch höherem Grad als früher. Ich fühle mich am wohlsten, wenn ich allein bin. Aber unser Vater hat sie gern. Sie und Michail Iwanowitsch, das sind die beiden Menschen, gegen die er immer freundlich und gütig ist, weil er ihnen beiden Wohltaten erwiesen hat; denn wie Sterne sagt: ›Wir lieben die Menschen nicht sowohl um des Guten willen, das sie uns getan haben, als um des Guten willen, das wir ihnen getan haben.‹ Unser Vater hat sie als vaterlose Waise geradezu von der Straße in sein Haus genommen, und sie ist ein sehr gutes Wesen. Und dem Vater sagt ihre Art vorzulesen zu. Sie liest ihm abends vor. Sie liest ausgezeichnet.«
»Nun meinetwegen; aber sage einmal offen, Marja, ich meine, es muß dir bei dem Charakter des Vaters doch manchmal schwer werden, mit ihm auszukommen?« fragte Fürst Andrei unvermittelt.
Prinzessin Marja war zunächst erstaunt, dann aber ganz erschrocken über diese Frage.
»Mir ...? Mir ...? Mir sollte es schwer werden?« erwiderte sie.
»Er war ja immer rauh und schroff; aber jetzt ist es, wie mir scheint, besonders