Das Medaillon. Gina Mayer
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Das Medaillon - Gina Mayer страница 19
Herr Leder nickte verständnislos. »Kann man ihm denn nichts geben, das ihn wieder aufrichtet?«, fragte er dann.
Dr. Kuhn holte seinen Rezeptblock aus der Rocktasche und kritzelte darauf herum, in seiner großen, fahrigen Handschrift, dann riss er das Blatt schwungvoll ab und reichte es dem Vater. »Tropfen, die das Atmen erleichtern. Aber die Ruhe ist viel wichtiger, dass er mir nicht gleich in der nächsten oder übernächsten Woche in der Fabrik steht. Er muss sich ausheilen ...«
Er unterbrach sich und wie auf ein Stichwort setzte Traugott ein und begann zu husten, es klang rau und qualvoll wie eine Harke, die über einen Steinboden kratzt. Kuhn nahm das Stethoskop vom Hals und verstaute es in seiner bauchigen Tasche. Als er ging, reichte er allen die Hand, auch Dorothea, dabei wirkte er irritiert, als könne er sich nicht erinnern, bei welcher Gelegenheit er sie schon einmal gesehen hatte.
Am nächsten Morgen ging sie noch vor der Arbeit zur Apotheke am Heckweiher. Ihr Herz klopfte unwillkürlich schneller, als sie Minter hinter dem Ladentisch sah, dabei war es doch Rosalie, die in ihn verliebt war und nicht sie selbst. Sie erwartete nicht, dass er sich an sie erinnerte, wenn nicht einmal Dr. Kuhn sie einordnen konnte, obwohl sie die beste Freundin seiner Tochter war, würde der Apotheker sie bestimmt nicht wiedererkennen, und so war es auch. »Ich muss die Tropfen erst mischen«, sagte er, nachdem er das Rezept einige Sekunden lang stirnrunzelnd betrachtet hatte. »Wollen Sie warten oder später noch einmal wiederkommen?«
Sie wartete, es dauerte eine ganze Weile lang, weil zwischendurch immer Kundschaft kam, die er bedienen musste. Jedes Mal warf er ihr einen halb entschuldigenden, halb ängstlichen Blick zu, als erwartete er, dass sie sich empörte oder weglief.
»Vielen Dank für Ihre Geduld«, meinte er schließlich. Sie nahm einen frischen, ein wenig bitteren Geruch an ihm wahr, als er ihr die Flasche reichte, wahrscheinlich waren es die Ingredienzien der Medizin.
»Bitte«, sagte er, als sie sich fast schon abgewandt hatte. »Können Sie Rosalie etwas ausrichten?«
Er hatte sie also doch erkannt. Und nun wollte er, dass sie die Vermittlerin spielte, die Kupplerin, die die Dinge zwischen ihm und Rosalie wieder ins Lot brachte. Nein, hätte sie am liebsten gerufen. Nein, sie würde nichts ausrichten.
»Sicher«, sagte sie stattdessen.
»Sagen Sie ihr, es tut mir leid. Sagen Sie ihr, ich muss sie sprechen.«
Sie nickte kurz und dann drehte sie sich um.
Seit Tobias morgens Wasserholen ging, traf Dorothea Rosalie nicht mehr täglich. Sie musste also abends bei ihr vorbeigehen, aber an diesem Abend war es bereits zu spät. Am nächsten Abend regnete es wie aus Kübeln und am Abend danach war Bibelandacht bei den Ostermanns und so verging ein Tag nach dem anderen, ohne dass Dorothea Minters Botschaft ausrichtete. Dabei war sie sich sicher, dass Rosalie den ganzen Tag an den Apotheker dachte und dass sie nachts gerne von ihm geträumt hätte, was aber vermutlich nicht geschah, denn man träumt nur sehr selten von Dingen, die man sich ersehnt, und viel zu oft von dem, was man lieber vergessen will.
Dorothea zum Beispiel träumte eine Woche, nachdem sie in der Apotheke gewesen war, von Minter. Sie war auf dem Weg in die Nordstadt, als er ihr begegnete. Er fragte sie nichts, er schaute sie einfach nur an. Schließlich wachte sie schweißgebadet auf und überlegte, ob sie jetzt gleich, mitten in der Nacht, aufstehen und zu Rosalie laufen sollte, um ihr alles zu beichten.
Am nächsten Morgen ging sie auf dem Weg zur Bibliothek bei ihr vorbei. Vor dem Haus stieß sie fast mit Dr. Kuhn zusammen, der mit seinem Arztkoffer in der Hand die Stufen hinuntereilte.
»Rosalie ist nicht zu Hause, sie wird auf dem Markt sein«, sagte er und lief weiter, doch dann drehte er sich noch einmal zu ihr um. »Wie geht’s dem Bruder?«
Dorothea zuckte mit den Schultern. Nicht gut, Traugott spuckte zwar kein Blut mehr, aber er hustete noch genauso wie vor zwei Wochen und dennoch war er heute Morgen wieder mit dem Vater in die Hofaue gegangen, aber das wollte sie dem Doktor nicht sagen.
»Schön ausruhen soll er sich, gut auskurieren!«, rief Kuhn, seine Stimme dröhnte über die ganze Straße. »Luftveränderung wäre das Beste«, rief er, dabei hob er die Hand und winkte ihr zu, aber vielleicht winkte er auch nach der Droschke, die gerade oben in die Laurentiusstraße einbog.
Sie nahm sich vor, am Abend nur ganz kurz bei Tante Lioba zu bleiben und danach zu Rosalie zu gehen, aber dann kam alles ganz anders. Am Vormittag, kurz nach zehn, stand plötzlich Walpurga zwischen den Bücherregalen. Dorothea erkannte sie zuerst gar nicht, weil sie einfach nicht hierhin gehörte. Dann sah sie, dass Walpurgas Augen rot und geschwollen waren vom Weinen.
»Mein gutes, liebes Fräulein Dorothea«, rief sie mit zitternder Stimme und tupfte sich mit einem zerknüllten Taschentuch die glänzende Nase.
Dorothea spürte, wie ihr von einer Sekunde zur anderen schwindlig wurde vor Angst, und sie war dankbar, dass plötzlich Kirschbaum da war, der sie sanft berührte und zu einem Stuhl führte, auf den sie sich setzen konnte.
5. Kapitel
»Was die Erschaffung des Menschen betrifft, soll es seiner unwürdig sein, wenn wir ihn als die höchste und letzte Entwicklung des thierischen Lebens betrachten und jeden Vorzug seiner Natur aus der Vollendung seines Organismus herleiten, ist er darum weniger gut aus der Hand des Schöpfers hervorgegangen, wenn dieser in dem dunklen Schoosse ungezählter Jahrtausende die Thiergestalt nach und nach veredelte, bis das menschliche Gebilde, das man sein Ebenbild genannt hat, erreicht war?«
(aus »Über die Beständigkeit und Umwandlung der Arten« von Hermann Schaaffhausen, 1853)
Im Sommer war es der schönste Platz der Stadt. Dann standen die Rosenbüsche in voller Blüte, ein Blütenkopf neben dem anderen, rot und rosa und purpur, und der Boden war bedeckt von duftenden Blättern. Mindestens einmal im Sommer kam Rosalie hier heraus. Sie setzte sich auf eine der Bänke unter den Bäumen und blickte auf die blühenden Büsche, die sich über die grauen Steinplatten beugten, atmete den Duft der Blumen ein und wurde ganz ruhig. Gottes Acker.
Auch jetzt, Ende März, war es Gottes Acker, aber jetzt war es ein karger Ort, ein schlafender Ort. Ein Ort in Erwartung seiner Auferstehung im Sommer. Jetzt streckten die Rosenbüsche ihre kurzen, kahlen, dornigen Arme in den grauen Himmel, es sah aus, als bettelten sie um Schnee, um die sanfte, weiße Decke, die ihr nacktes Holz den Winter über gnädig verhüllt hatte. Stattdessen blies ein scharfer Wind feine Regentropfen über die flachen Steine und das Efeu zwischen den Grabhügeln. Er blähte die Röcke der Frauen auf und zerrte an ihren Schutenhüten und riss am schwarzen Talar Kohlbrügges, der vorn am Grab stand, die Bibel aufgeschlagen in der Hand.
Kohlbrügge richtete die Augen nach oben und schaute über die Köpfe der Trauergemeinde hinweg. Er schien seine Worte vom Himmel abzulesen oder aus den kahlen Ästen der Bäume hinter dem Friedhof. »Durch eigene Schuld bin ich dem Tod anheimgefallen«, rief er, während die Blätter der Bibel flatterten, als wollte das Buch von ihm wegfliegen, »und dieser Leib, worin ich mich befinde, was ist er anders denn ein Totengerippe, überklebt mit verweslichem Fleisch!«
Rosalies Gedanken schweiften ab, zu dem kleinen Körper in dem schmalen Sarg, bei dem die Verwesung, von der Kohlbrügge sprach, schon ihren Anfang genommen hatte.
Dann begann man zu singen, aber Rosalie kannte das Lied nicht. Sie sah zu Dorothea hinüber, die neben ihrer Mutter stand und ebenfalls nicht mitsang. Ihre Augen waren rot und geschwollen, aber sie wirkte gefasster als vorhin bei der Trauerandacht