Dr. Norden Classic 40 – Arztroman. Patricia Vandenberg
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Noch immer fiel ihr das Sprechen schwer. Doch sie wäre nicht Arztfrau, Mutter von fünf Kindern und selbst Ärztin und demnächst Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie gewesen, wenn sie sich auch nur den leisesten Anflug von Selbstmitleid erlaubt hätte.
»Ich glaube, mit der Bäckerei hast du die richtige Entscheidung getroffen.« Sie streckte die Hand aus und streichelte über Tatjanas Hand, die auf der Bettdecke lag.
Die junge Frau erwiderte die Zärtlichkeit, ein inniges Lächeln auf den Lippen und in den Augen.
»Das glaube ich auch, Fee. Weißt du, es fängt ja schon beim Geruch an. Ich kann nicht genug bekommen von dem Duft in der Bäckerei. Das Gebäck, die Brote, der Kaffee … der Gedanke daran, dass das alles einmal mir gehören wird, ist fantastisch. Ich muss mir nur noch Gedanken über die Finanzierung machen. Mein Vater hat immer noch nicht geantwortet.«
Fee bemerkte, dass das Strahlen auf Tatjanas Gesicht allmählich erlosch. Doch das lag nicht etwa daran, dass sie sich Sorgen um ihren Vater machte, der in Marokko als Ingenieur arbeitete, während seine Tochter schon vor Jahren nach Deutschland zurückgekehrt war. Der Kontakt war seither spärlich. Manchmal hörten sie wochenlang nichts voneinander. Anfangs hatte Tatjana darunter gelitten. Doch seit sie mit Danny Norden zusammen war und seine Familie gleich mit adoptiert hatte, fehlte ihr nichts mehr zu ihrem Glück.
»Aber glaub mir: all das hätte mir keinen Spaß mehr gemacht, wenn dir was passiert wäre«, gestand sie, und ihre Stimme klang plötzlich wie die eines kleinen Mädchens, das sich verirrt hatte. »Ich meine, ich habe es ja schon immer irgendwie geahnt … aber in den letzten Tagen habe ich es besonders gespürt.« Tatjana drückte Fees Hand in einer spontanen Geste an ihre Wange. »Du bist mir wie eine Mutter geworden. Ohne euch und eure Unterstützung, aber auch eure Kritik hätte ich das alles nicht geschafft. Das Studium, die Lehre, das Geschäft, das ich übernehmen soll … Allein diesen Entschluss zu treffen, hätte ich niemals gewagt. Das wäre viel zu groß für mich gewesen.«
Felicitas wusste, wie außergewöhnlich solche Worte für die tapfere junge Frau waren, die so hart gegen sich selbst war. Doch sie hatte schon immer tiefer geblickt, hatte gewusst, dass Tatjanas burschikose Art reiner Selbstschutz war, um das Mitleid ihrer Umwelt abzuwehren. Sie brauchte kein Mitleid. Das, was sie brauchte, war die Zuversicht und das Vertrauen der Menschen, die sie liebte.
»Du hättest das alles auch ohne uns geschafft«, versicherte Fee zutiefst gerührt. »Aber mit Unterstützung ist es natürlich ein bisschen leichter. Das erfahre ich gerade am eigenen Leib.« Versonnen streichelte Fee die raue Hand der jungen Bäckerin. »Deshalb habe ich dir auch zu danken. Deine Liebe und Zuversicht machen mir Mut, diese tückische Krankheit zu besiegen.«
»Das musst du auch!« Tatjanas Stimme war vehement, fast streng. »Und wenn du wieder gesund bist, backe ich dir eine Willkommens-Torte. Du wirst Augen machen!«
»Das glaube ich dir auf’s Wort«, versicherte Fee und meinte es auch so.
Trotzdem gelang es ihr nicht, ein Gähnen zu unterdrücken. Die Erschöpfung steckte ihr in den Gliedern. Eine Ruhepause war ihr trotzdem nicht vergönnt. In dem Moment, als ihr die Augen zufallen wollten, kam Lernschwester Carina mit einem Auftrag ins Zimmer.
»Sie sind ja noch wach, Frau Dr. Norden!«, stellte sie zufrieden fest. »Das trifft sich gut. Ich soll Sie darauf vorbereiten, dass die Physiotherapeutin gleich zu Ihnen kommt. Es wird Zeit, Ihren Kreislauf wieder in Schwung zu bringen.«
Mit einem gequälten Seufzen drückte sich Fee fest in die Kissen.
»Ich bin so müde!« Doch wenn sie gehofft hatte, ihrem Schicksal damit zu entgehen, so hatte sie sich getäuscht.
»Sie werden sehen: Nach der Therapie schläft es sich gleich doppelt so gut«, versprach Schwester Carina fast feierlich. »In fünf Minuten ist es so weit.« Sie winkte und wirbelte so schnell aus dem Zimmer, wie sie gekommen war.
»Du Arme!« Tatjana beugte sich über Fee und hauchte ihr einen mitfühlenden Kuss auf die Wange. »Aber wie heißt es so schön? Wer rastet, der rostet. Je eher du anfängst zu üben, desto schneller kommst du wieder auf die Beine. Und dann besuche ich zu dich zu Hause und wir beide schmieden bei einem schönen Stück Torte Pläne, wie wir das Café einrichten wollen, wenn es erst mir gehört. Ich hab da so ein paar Ideen und brauche unbedingt deine Meinung dazu.«
Einen kurzen Moment wartete Tatjana auf eine Antwort. Doch das einzige, was sie hörte, waren die regelmäßigen Atemzüge der Ärztin. Allen Ankündigungen zum Trotz war Fee Norden eingeschlafen und würde sich erst wieder wecken lassen, wenn es unbedingt nötig war.
*
Nachdem Danny Norden seine Untersuchung bei Else Unterholzner beendet hatte, schüttelte er bedauernd den Kopf.
»Tut mir leid, Frau Unterholzner. Ich muss Sie zur weiteren Untersuchung in die Klinik schicken.«
»In die Klinik?«, entfuhr es Else. Sie lag auf der Untersuchungsliege und starrte den jungen Arzt an.
Ihrer Miene war anzusehen, wie entsetzt sie über dieses Vorhaben war. »Muss das sein?«
Die Latexhandschuhe schnalzten leise, als Danny sie von den Händen zog. Mit einem gezielten Wurf landeten sie im Abfall.
»Es hat den Anschein, als hätten wir es mit einem komplexen Meniskusriss zu tun. Durch ein MRT kann dieser Verdacht bestätigt, vielleicht aber auch ausgeräumt werden.« Wie sein Vater setzte auch der junge Arzt auf umfassende Aufklärung seiner Patienten. »Aber selbst wenn eine Operation nötig werden sollte, müssen Sie sich keine Sorgen machen. Dieser Eingriff ist heutzutage ein Klacks. Kein Grund zur Aufregung.« Er half Else Unterholzner von der Behandlungsliege und begleitete sie hinüber an seinen Schreibtisch. »Am besten, wir vereinbaren gleich einen Termin in der Orthopädie. Heute ist Freitag. Sie könnten Montag früh in die Klinik gehen.« Er war schon im Begriff, den Telefonhörer zu heben, als Else einen leisen Schrei ausstieß. Verdutzt blickte er auf. »Stimmt was nicht?«
»Ich …ich kann nicht in die Klinik«, stammelte sie und rang ganz offensichtlich um Fassung. »Der Auftrag nächsten Monat … den kann ich unmöglich absagen.« Händeringend suchte sie nach einem Ausweg. »Es muss doch noch eine andere Möglichkeit geben. Meniskus wird doch heutzutage gar nicht mehr operiert«, stellte sie Dannys Kompetenz ohne Umschweife ein weiteres Mal in Frage.
Der junge Arzt lehnte sich zurück und betrachtete seine Patientin aufmerksam. Die nackte Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben und stimmte ihn versöhnlich.
»Bei einer Meniskusverletzung der inneren Zone – und die ist bei einem komplexen Meniskusriss auch betroffen – gibt es keine guten Chancen auf eine Heilung des Schadens«, erklärte er vollkommen ruhig. »Und Sie wollen doch zurück auf den Laufsteg.« Nicht ohne Grund appellierte er an ihre Eitelkeit, und für einen kurzen Moment schien es, als wollte Dannys List aufgehen.
»Sie meinen, dass ich ohne Operation nicht mehr richtig laufen kann? Das wäre eine Katastrophe. Wenn ich nur an die Modenschauen denke …«
»Ich will auf keinen Fall den Teufel an die Wand malen«, erklärte Danny. Ihre Bemerkung wegen seiner ausstehenden Doktorarbeit hatte sich wie ein Feuermahl in sein Gedächtnis eingebrannt, und er wusste, dass er behutsam vorgehen musste. »Falls sich meine Befürchtung jedoch bestätigt, kann ich für nichts garantieren.«
Trotz ihrer Schmerzen saß Else mit elegant übereinander geschlagenen Beinen auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch und dachte nach.