Sophienlust 312 – Familienroman. Bettina Clausen
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Sie mögen mich nicht!, dachte Chris. Sie mögen mich alle nicht, und ich mag sie auch nicht!
Mit der Fußspitze schleuderte er einen Kieselstein von sich. Dabei schielte er hinüber zum Spielplatz, auf dem sich die Kinder von Sophienlust jetzt im Kreis aufstellten. Sie begannen ein neues Spiel.
Als ein Mädchen nach ihm rief, schaute Chris in die andere Richtung.
»Er hört uns doch«, sagte Henrik. »Warum antwortet er nicht?«
Pünktchen schaute zu dem Jungen auf der Parkbank. »Soll ich einmal hinlaufen?
»Wozu?«
»Um zu fragen, ob er mitspielen will.« Pünktchen trat aus dem Kreis. Irgendwie tat ihr der Neue leid.
»Aber mach nicht so viele Faxen mit ihm«, rief Henrik ihr nach. »Entweder will er mitspielen – oder er will nicht.«
Pünktchen lief über den Rasen.
Ihre Nase ist voller Sommersprossen, dachte Chris.
Pünktchen blieb atemlos vor ihm stehen.
»Willst du mitspielen, Christian?«
»Warum sagst du nicht Chris, wie alle anderen?«
»Also gut, Chris, spielst du mit?«
»Nein!«
»Warum nicht?« Pünktchen setzte sich neben ihn.
»Keine Lust.«
Der Junge bohrte seine Schuhspitze in den Kies.
»Die Lust kommt beim Spielen. Versuche es doch einmal.« Pünktchen sprang wieder auf. »Komm, spiele mit!«
»Nein!«
Pünktchen seufzte. »Na schön, wenn du nicht willst.« Sie drehte sich langsam um. »Wenn du dir es anders überlegst, dann kommst du herüber, ja?«
Chris antwortete nicht. Er schaute dem Mädchen nach, als es zurücklief zu den anderen. Er beobachtete auch, dass die Kinder miteinander sprachen und zu ihm herüberschauten. Am liebsten hätte er ihnen die Zunge herausgestreckt.
Es war heiß, am Himmel war keine Wolke. Es war richtiges Juniwetter. Die Kastanienbäume im Park des Kinderheims Sophienlust waren gerade erst verblüht.
Christian dachte an die Bäume im Garten seines Vaters. Er dachte daran, wie gern er immer beim Rasenmähen geholfen hatte und beim Gießen abends im Sommer. Danach hatten sie sich zu zweit an den Gartentisch gesetzt und gegessen. So schön war das gewesen. Und jetzt? Alles war vorbei. Der Vater wollte wieder heiraten. Nur deshalb war er nach Amerika geflogen. Um diese Frau zu holen, die schuld daran war, dass ihn der Vater in dieses Heim gebracht hatte.
Nur sie.
Ich kann sie nicht leiden, dachte Chris. Niemals werde ich Mutti zu ihr sagen. Niemals. Wieder flog ein Kieselstein durch die Luft.
Chris stand auf und ging tiefer in den Park hinein. Hier war er endlich allein. Er legte sich bäuchlings ins Gras, riss Halme aus und zerkaute sie. Dann drehte er sich auf den Rücken. Der Himmel war so blau wie auf der Postkarte, die der Vater ihm aus Kalifornien geschickt hatte. Noch ein paar Monate wollte er dort bleiben.
Nur wegen dieser alten Ziege, dachte Chris aufgebracht. Er hatte Sandra Kranz ein paarmal gesehen. »Hässlich ist sie. Alt und hässlich.« Der Junge merkte gar nicht, dass er laut sprach.
»Wer ist alt und hässlich?«, fragte eine Stimme hinter ihm.
Chris fuhr herum.
»Was willst du hier?«, fuhr er die Kleine an.
Heidi, das jüngste Kind im Heim, zuckte zusammen. »Nichts. Ich bin mit Rosenrot spazieren gegangen und habe dich gesehen.« Sie setzte sich neben Chris ins Gras. Ihrem Kaninchen, das Rosenrot hieß, hatte sie ein Halsband umgelegt, an dem eine Schnur hing.
»Warum hältst du es fest?«
»Damit es nicht weghoppelt. Schon einmal ist es ausgerissen. Da haben wir drei Tage nach ihm gesucht. Wenn du willst, kannst du mit ihm spielen.« Heidi wollte nett zu dem Neuen sein.
Chris schüttelte den Kopf. »Ich mag Kaninchen nicht.«
Heidis Hand fuhr über das weiche weiße Fell, als müsste sie Rosenrot trösten. »Wie lange bleibst du in Sophienlust?«
Chris zuckte mit den Schultern.
»Weiß ich nicht. Warum heißt das Heim Sophienlust?«
»Weil …« Heidi überlegte. »Ich hab’s vergessen.«
»Kein Wunder bei so einem dummen Namen.«
»Der ist nicht dumm«, rief Heidi entrüstet.
»Euer ganzes Heim ist dumm.«
»Warum bist du dann überhaupt hier?«
Christians Lippen zuckten. »Weil mein Vater mich hergebracht hat.«
»Und warum hat er dich hergebracht?«
»Das geht dich nichts an!«
»Ich weiß es aber!«, triumphierte Heidi. Die anderen Kinder hatten darüber gesprochen.
»Was weißt du?«
»Dass dein Vati eine …« Heidi konzentrierte sich. »Eine geschäftliche Fahrt nach Amerika macht.« Nun strahlte sie. Sie war stolz darauf, dass sie sich das gemerkt hatte. Dann fragte sie kleinlaut: »Was ist das, eine geschäftliche Fahrt?«
»Mein Vater macht keine Geschäftsreise«, sagte Chris. »Das sagt er nur, weil er diese Frau sehen will.«
Jetzt verstand Heidi überhaupt nichts mehr. »Was für eine Frau?«
»Die, die er heiraten will.«
»Dann kriegst du ja eine Mutti«, rief Heidi.
Chris funkelte die Kleine an. »Ich will keine Mutti. Und so eine schon gar nicht.«
»Kennst du sie denn?«
»Ja.«
»Ich denke, sie ist in Amerika?«, bohrte Heidi weiter.
»Sie war einmal hier zu Besuch.«
»Kommt sie wieder her, wenn sie deinen Vati heiratet?«
»Ich hoffe, sie stirbt vorher.«
Heidi zuckte zusammen. »So etwas darf man nicht sagen.«
»Warum nicht? Ich will ja, dass sie stirbt.« Dass er Heidi erschreckt hatte, gefiel ihm. »Meine Mutti ist auch gestorben.« Seine Unterlippe schob sich nach vorn.
»Wann ist sie gestorben?«
»Schon lange. Und dann war ich mit Vati allein, und das war schön …« Er begann wieder zu träumen. Von