Größer als der Schmerz. Alex Tresniowski

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Größer als der Schmerz - Alex Tresniowski

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8,26

      Kapitel 2

      Der Bewaffnete legte sein Gewehr an und zielte damit auf Russ. Russ stand im Gang zum Medienzimmer. Ich wusste nicht, ob er es hineinschaffen würde. Nur eine Sekunde, dann wäre das Leben dieses Mannes vorbei. Ein Zug am Abzug, und das war’s.

      Ich beschloss, dem Bewaffneten etwas zuzurufen, um ihn abzulenken.

      „Was tun Sie da?“, fragte ich ihn laut.

      „Sagen Sie denen, sie sollen aufhören, sich zu bewegen!“

      „Sie tun nur das, was Sie gesagt haben. Kommen Sie jetzt wieder rein. Es ist alles in Ordnung.“

      Der Mann ließ die Waffe sinken, kam zurück in den Raum und schloss die Tür. Ich konnte hören, wie die Tür zum Medienzimmer zugeschlagen wurde. Russ war drinnen. Er war in Sicherheit, jedenfalls für den Moment.

      Ich weiß nicht, warum der Bewaffnete Russ nicht erschossen hat. Ich weiß auch nicht, warum er wieder zu mir ins Zimmer zurückkam, nachdem ich ihn aufgefordert hatte, dies zu tun. Solche Fragen stellte ich mir damals in der Situation auch nicht. Ich hatte in dem Moment nur eins verstanden: Je länger ich den Bewaffneten an der Rezeption halten konnte, desto länger dauerte es, bis er zu schießen begann.

      Er fing wieder an, im Zimmer herumzulaufen. Plötzlich schien die Rezeption sehr klein zu sein. An einem gewöhnlichen Tag fanden dort viele Lehrer, Eltern und Schüler Platz, aber an diesem fühlte sie sich an wie ein Wandschrank. Und der bewaffnete Mann, der ständig auf und ab ging, ließ das Zimmer noch viel kleiner wirken. Zwar waren nur wir beide darin, doch ich hatte dort zum ersten Mal das Gefühl, als müsste ich ersticken.

      „Wie heißen Sie?“, fragte ich ihn.

      Er antwortete nicht. Er lief einfach weiter herum.

      „Das ist kein Scherz“, betonte er erneut. „Ich spiele nicht herum. Das passiert wirklich. Wir werden heute sterben.“

      Er wiederholte diese Worte wieder und wieder. Sein Zorn schien nicht abzuklingen, sondern nur noch größer zu werden. Also ließ ich ihn einfach reden. Was mir außerdem klar wurde: Ich sollte lieber nichts unternehmen, was ihn noch mehr in Rage bringen könnte. Vielmehr sollte ich tun, was immer ich könnte, um ihn ruhig zu halten. Und obwohl ich es zu dem Zeitpunkt nicht merkte, erkenne ich jetzt im Nachhinein, dass ich am Anfang dieses ganzen Szenarios etwas sehr Besonderes tat: Ich redete mit einem potenziellen Amokläufer wie mit jedem anderen Schüler.

      Ich kann nicht behaupten, dass das mein Plan war, denn ich hatte einfach gar keine Zeit, irgendetwas zu planen. Da war einfach nur meine Stimme, die ich gebrauchte. Sie war ruhig, fest, bestimmend und kam einfach so aus mir heraus.

      Was der Bewaffnete nicht sehen konnte, waren meine schlotternden Knie und zitternden Hände. Auch konnte er mein Herz nicht hören, das wie wild raste. Oder wie tief erschrocken ich war. Es gibt wohl nichts Eisigeres, als wenn man erkennt, dass plötzlich etwas ganz Schreckliches geschieht. Noch vor einem Moment sah die Welt so aus und im nächsten ist sie schon ganz anders. Noch vor einer Minute hast du nicht viel über das Leben nachgedacht, und nun fürchtest du, dass dein Leben in jeder Sekunde vorüber sein könnte. Ich hatte Angst. Wirkliche Todesangst. Angst, die jeden Nerv in meinem Körper beanspruchte. Gleichsam fühlte ich da auch dieses Grauen, ein die Seele zerstörendes Grauen, das meinen Körper schwer und schwach anfühlen ließ. Und dann war da noch diese unglaublich bleierne Traurigkeit.

      Ziemlich früh wurde mir klar, dass ich mich mit dem Tod selbst in einem Raum befand. Auch dass die sehr wahrscheinliche Möglichkeit bestand, dass ich Derrick und meine Tochter LaVita nie wiedersehen würde. Dass ich sie nie wieder umarmen, küssen oder ihnen sagen könnte, wie sehr ich sie liebe. Ich wusste, dass der Mann, der da vor mir auf und ab schritt, labil war bei allem, was er tat. Ich wusste, dass der Dämon in ihm gekommen war, um zu stehlen, zu schlachten und zu vernichten. Mir war vollends klar, wie schwierig meine Situation war. Ich wusste, jedes Wort aus meinem Mund konnte den Unterschied zwischen Leben und Tod bedeuten – nicht nur für mich, sondern für jeden im Gebäude. „Worte haben Macht: Sie können über Leben und Tod entscheiden“, heißt es in Sprüche 18,21. Insofern müssen wir durch unser Reden Leben in eine Situation bringen, wenn wir wollen, dass Gott sichtbar wird.

      Warum also vermochte ich so ruhig zu sprechen, wenn ich doch so verängstigt war?

      An genau diesem Morgen, zu Hause in meiner Küche, hatte ich Psalm 23 gelesen: „Der Herr ist mein Hirte … Er führet mich zum frischen Wasser.“ Ich las weiter: Ich „fürchte … kein Unglück; denn du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich“. Und weiter: „Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde“ (LU). Auch gestern hatte ich am Tisch in meiner Küche genau dieselben Worte gelesen: Ich „fürchte … kein Unglück; denn du bist bei mir“. Und am Morgen davor und dem davor auch. Ich las diese Worte jeden Morgen, auf diese Weise festigten sie sich in meine Seele. Als ich dann am 20. August Gott fragte „Was machen wir jetzt?“, hatte ich im Herzen bereits eine Antwort. Gott würde mich zum frischen Wasser führen. Er würde mich trösten.

      Und Gott würde das Reden für mich übernehmen.

      Ich musste nicht beten, um das zu verstehen – es war einfach da. Tatsächlich kann ich mich nicht daran erinnern, am Anfang um Hilfe oder Trost gebetet zu haben, denn in diesen ersten Momenten war ich einfach viel zu durcheinander. Ich erinnere mich nur daran, dass ich die ganze Zeit über ein einziges Gebet sprach, und dabei ging es nicht um etwas, woran Sie jetzt denken würden.

      Ich betete nämlich zu Gott, nicht müssen zu müssen.

      Sie müssen wissen, dass ich bereits vorgehabt hatte, die Toilette aufzusuchen, bevor ich an die Rezeption ging, doch dann kam dieser verheerende Telefonanruf dazwischen, und danach war ich spät dran, und dann passierte all das hier. Und plötzlich spürte ich, dass ich wirklich absolut dringend zur Toilette musste. Es war fast nicht mehr auszuhalten. Vermutlich machte der Schrecken, von dem mein ganzer Körper ergriffen war, alles noch schlimmer. Also betete ich: „Herr, lass mich nicht müssen müssen. Gib, dass meine Blase sich beruhigt.“ Wie gesagt, vermutlich nicht das Gebet, das Sie in der Situation angesichts eines sich anbahnenden Amoklaufs erwarten würden, aber es war das Gebet, das ich im Stillen betete. Und zumindest für einen Moment lang war der unerträgliche Drang weg. Die Angst, das innerliche Beben und Zittern spürte ich die ganze Zeit, aber irgendwie hielt Gott mein Wasser zurück.

      Darüber hinaus musste ich Gott nicht um Hilfe bitten. Er schenkte mir meinen ruhigen, freundlich-bestimmten Ton in der Stimme, weil er wollte, dass ich auf diese Weise sprach.

      „Wie heißen Sie?“, fragte ich erneut, in der Hoffnung, den Bewaffneten zu beschäftigen und dazu zu bringen, auf mich zu hören. Bis jetzt hatte er nicht einmal Blickkontakt zu mir aufgenommen. Während er seine Befehle bellte, sah er stets an mir vorbei oder auf den Boden. Nie sah er mich direkt an.

      Er antwortete nicht. Er ging weiterhin nur auf und ab und betonte, wie ernst er es meinte.

      „Ich spiele nicht“, sagte er. „Ich weiß, dass ich sterben werde.“

      In diesem Moment ging die Eingangstür zur Rezeption auf und ein Mann mittleren Alters trat herein.

      Sein Name war Lou, er gehörte auch zur Schulverwaltung. Lou war eine der fröhlichsten und sorgenfreisten Seelen, die es nur geben mag. Er ging nicht einfach irgendwohin, er glitt dorthin. Er hatte ein Funkeln in seinem Blick und bewegte sich ganz leichtfüßig. Als er in die Rezeption kam, war er ebenso gut gelaunt, fröhlich und sorgenfrei wie immer. Er pfiff sogar. Mir wurde sofort klar,

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