Größer als der Schmerz. Alex Tresniowski

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Größer als der Schmerz - Alex Tresniowski

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brachte mich schnell ins Krankenhaus und rief von dort aus Terry an, um ihn wissen zu lassen, was gerade geschehen war. Terry bestand darauf, dass meine Mutter mir den Hörer reichte, weil er mir etwas Wichtiges zu sagen hatte.

      „Ich bin unterwegs“, sagte er. „Bekomm das Kind nicht, bis ich da bin! Was du auch tust, warte, bis ich da bin!“

      Terry rannte den ganzen Weg von Südost-Washington bis zum Krankenhaus in Maryland – bestimmt mehr als sechzehn Kilometer. Wir besaßen damals kein Auto, also lief Terry einfach immer überall hin. Als er in mein Krankenhauszimmer platzte, schwitzte er wie ein Pferd und war so dehydriert, dass jemand ihm einen Saft zu trinken geben musste, sonst wäre er gleich ohnmächtig geworden. Zu seinem Glück, aber nicht zu meinem, dauerten meine Wehen dreizehn Stunden. Ich hatte Angst, bevor Terry eintraf, doch nachdem ich ihn an meiner Seite wusste, war alles in Ordnung. Ich war bereit, unser Kind zu bekommen. Ich war bereit für meine Familie.

      LaVita war spät dran. Sie hätte schon im März kommen sollen, aber ich gebar das schöne, gesunde kleine Mädchen erst am 15. April.

      Die Krankenschwester legte sie mir zuerst in den Arm. Ich hielt sie, küsste ihre winzige Stirn und reichte sie anschließend Terry. Sobald er LaVita in seinen Armen hielt, wurde er ganz emotional. Vermutlich weil er schon so viel Zeit damit verbracht hatte, mit ihr zu reden, ihr vorzusingen und für sie zu beten, als sie noch in meinem Bauch war. Es schien mir, als fühlte sie sich in seinen Armen gleich wie im Himmel. Sie würde Papas Mädchen sein, das spürte ich von Anfang an.

      Terry und ich hatten endlich eine Familie. Die Familie, die wir gewollt hatten. Und nur eine Woche nach LaVitas Geburt fiel Terry vor mir auf die Knie, überreichte mir einen kleinen Verlobungsring, den er mit dem Geld von seiner Arbeit als Fahrer gekauft hatte, und bat mich, ihn zu heiraten.

      Ich sagte Ja.

      Der Ring war etwas zu groß für meinen Finger, daher bat ich Terry, ihn wieder zum Juwelierladen zu bringen, um ihn anpassen zu lassen. Doch da Terry als Fahrer so beschäftigt war, ging er monatelang nicht dorthin. Ich trug ihn trotzdem, musste aber immer besonders vorsichtig sein, damit er mir nicht vom Finger rutschte. Eines Tages fragte mich Terry aus heiterem Himmel nach dem Ring und sagte mir, dass er ihn jetzt anpassen lassen werde. Eine Woche verstrich, dann eine weitere, ein ganzer Monat und am Ende waren es sogar schon zwei. Alle paar Tage fragte ich Terry nach dem Ring. Er sagte, dass er noch dran denke oder dass er zu beschäftigt sei, um ihn zu holen, oder er gebrauchte irgendeine andere Ausrede. Ich biss mir auf die Zunge, aber ich drängte ihn weiter dazu, meinen Ring abzuholen.

      Wir lebten damals bei Terrys Mutter. Eines Tages entschloss ich mich dazu, den Gottesdienst in der Kirche seiner Familie zu besuchen, statt mit meiner Mutter mitzugehen. Es war das erste Mal, dass ich in die Kirche seiner Familie ging. Ich betrat den Saal mit der kleinen LaVita auf dem Arm, und sofort bemerkte ich, dass uns die Leute in der Gemeinde komisch anschauten. Ich wusste nicht, warum, ließ mich aber davon auch nicht stören. Ich besuchte weiterhin den Gottesdienst und trat sogar dem Chor bei.

      Eines Sonntags dann, als ich gerade während des Gottesdienstes mit dem Chor auf der Bühne stand und sang, sah ich zu einer der anderen Chorsängerinnen hinüber, einem Mädchen ungefähr in meinem Alter, und ich sah, dass sie einen Verlobungsring trug.

      Meinen Verlobungsring.

      Terry hatte auch ihr einen Antrag gemacht. Er war mit uns beiden verlobt.

      Denn wir kämpfen nicht

      gegen Menschen,

      sondern gegen Mächte und

      Gewalten des Bösen,

      die über diese gottlose

      Welt herrschen …

      EPHESER 6,12

      Kapitel 3

      Einen Moment lang dachte ich, der Bewaffnete hätte auf uns geschossen. Ich erwartete, Lou zu Boden gehen zu sehen oder vielleicht mich selbst. Aber keiner von uns fiel hin. Der Bewaffnete hatte einen halben Meter rechts von uns den Gang entlanggezielt und ein einziges Mal geschossen.

      Der Schuss war unglaublich laut. Ich hörte, wie die Kugel vom Boden abprallte und durch den Raum querschlug. Ich wusste nicht, dass Kugeln querschlagen. Aber ich hörte, wie diese Kugel in der Luft pfiff, eine andere Wand traf und wie die Patronenhülse in die Ecke zu meiner Linken fiel und dort liegen blieb. All das geschah im Bruchteil einer Sekunde. Der strenge Geruch, der bei einem Schuss entsteht, lag in der Luft.

      Ich drehte mich zu Lou um und sah, dass er sich an die Brust fasste, als hätte er einen Herzinfarkt. Es hätte mich nicht überrascht, wenn es so gewesen wäre. Der Lärm des Gewehrschusses hob das Maß des Schreckens auf eine ganz neue Ebene. Dieser Mann hielt nicht nur eine tödliche Waffe in der Hand, er war auch mehr als gewillt, sie zu gebrauchen. Ich fühlte, wie sich mein Herz in meiner Brust verkrampfte, als hätte es jemand in die Hand genommen und würde nicht aufhören, es zusammenzupressen. Kalt und geradezu erdrückend wurde mir erneut klar: Ich konnte jeden Moment sterben.

      Jetzt stützte Lou sich auf den Tisch, während er noch immer an seine Brust fasste. Ich konnte nicht sagen, ob er gerade einen Herzinfarkt erlitt oder nicht. Ich vermute, Lou konnte das auch nicht.

      „Sie“, sagte der Bewaffnete und richtete sein Gewehr auf Lou. „Gehen Sie jetzt, und sagen Sie allen, was hier gerade geschieht.“

      Lou sah mich an. Seine Fröhlichkeit war nun verflogen, und sein Blick war der gleiche, den mir zuvor meine Freundin Belinda zugeworfen hatte. Einer, der sagte: „Ist es in Ordnung, dich hier zurückzulassen?“

      „Gehen Sie!“, wiederholte der Bewaffnete. „Gehen Sie jetzt!“

      Lou sah mich ein letztes Mal an.

      „Tu, was er sagt“, sagte ich zu ihm. „Geh!“

      Lou ging zur hinteren Tür und beeilte sich, aus dem Raum zu kommen. Auf einmal bewegte er sich schnell. Die Tür schloss sich hinter ihm und wieder waren da nur der Bewaffnete und ich. Er fing wieder damit an herumzulaufen. Ich saß unruhig auf meinem Stuhl. Meine Hände zitterten so sehr, dass ich keinen Stift hätte ruhig halten können.

      Der Schuss hatte alles geändert. Wenn ich zuvor noch irgendwelche Zweifel daran gehabt hatte, was der Bewaffnete vorhatte, waren sie nun weg. Doch wenigstens war bislang noch niemand getötet worden.

      Der Mann blieb stehen und wandte sich zu mir, wobei er noch immer nach unten sah und den Blickkontakt mied.

      „Gehen Sie an die Haussprechanlage, und sagen Sie allen, was hier vor sich geht“, sagte er.

      Ich ergriff das Mikrofon und schaltete die Sprechanlage ein. Das Mikrofon zitterte in meiner Hand, ich versuchte, es ruhig zu halten.

      „Wir haben einen Eindringling im Gebäude“, brachte ich in einem ruhigen und angemessenen Ton heraus. Ich vernahm das Echo meiner eigenen Stimme aus den Lautsprechern in den nahe gelegenen Räumen. „Das ist keine Übung! Folgen Sie den Anweisungen, die für einen Eindringlingsalarm zu treffen sind. Bleiben Sie alle ruhig und alles wird gut werden. Ich wiederhole: Wir haben einen Eindringling im Gebäude. Das ist keine Übung!“

      Ich stellte das Mikrofon wieder hin. Der Bewaffnete schien mit meiner Ankündigung zufrieden zu sein. Ich war nur froh, dass nun alle im Gebäude wussten, dass sie in Gefahr waren. Hoffentlich würden die Lehrer anfangen, die Kinder irgendwie aus dem Schulgebäude zu bringen. Je länger der Bewaffnete

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