Scheidung kann tödlich sein. Andrea Ross
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Als ich das nächste Mal an der Küche vorbeikomme, sehe ich bloß noch den Roli, der sich krampfhaft an der Arbeitsplatte der Küchenzeile festkrallt, so als wäre es die Reling eines Dampfers bei schwerem Seegang. Sprechen kann er nicht mehr, als ich ihn beiläufig frage, wo denn der Peter abgeblieben sei. Nur noch vorsichtig in Richtung meiner Toilette deuten.
Aha, es ist so weit! Schon beschweren sich Gäste, dass das Klo dauernd blockiert sei, die Türe auch nicht aufgehe, obwohl man sehen könne, dass nicht von innen abgesperrt sei. Mit Gewalt drücke ich die Tür einen Spalt breit auf, sehe meinen Bruder am Fußboden liegen. Er hat sich dekorativ rund um die Toilettenschüssel drapiert und stöhnt leise vor sich hin, ein Bild für Götter. Kein Wunder, dass niemand die Türe öffnen konnte! Peter ist fast 2 Meter groß und musste in seinem Zustand auf den Boden meines eher kleinen Duschbades passen.
Drei kräftigere Männer aus meinem Bekanntenkreis helfen mir, den käseweißen Peter vorsichtig aus dem Bad zu bugsieren, ihn neben einem Eimer in meiner Diele abzulegen. Sonst kann keiner mehr auf die Toilette gehen. Peter hat keine Ahnung, wo oder wer er ist; er sieht aus, als würde er jeden Moment den Löffel abgeben. Zum Glück kotzt er nicht mehr, das hat er bereits ausgiebig hinter sich. Sein Freund Roli verabschiedet sich kleinlaut, dieser hat wohl etwas früher mit dem Alkoholkonsum aufgehört und kann noch nach Hause wanken, er hat es nicht sehr weit.
Peter allerdings erkennt ihn nicht mehr, versucht stattdessen krampfhaft, das Karussell anzuhalten, auf dem er sich wähnt. Mit seinen Flurschadentretern »bremst« er zu beiden Seiten meiner schön weiß getünchten Diele an den Wänden, hinterlässt hässliche Schuhabdrücke. Da werde ich morgen mit Farbe und Pinsel anrücken müssen, aber ich bin ja selber schuld.
Jetzt fängt der Peter auch noch an zu zittern, scheinbar ist ihm kalt. Als ich mit einer Decke die Kälte verscheuchen will, hat er bereits etwas zum Zudecken gefunden: mein Telefonbuch. Er hat es sich auf den Bauch gelegt, klammert sich mit beiden Händen daran fest, so als wäre es eine Bettdecke. Und ist eingeschlafen, schnarcht wie ein Waldarbeiter. Na gut, den lasse ich erst einmal so liegen, informiere nur meine Gäste, damit sie nicht drauftreten. Alle paar Minuten grunzt der Peter auf, haut mit Händen und Füßen um sich und rückt das Telefonbuch wieder gerade, damit er nicht friert. Jedes Mal ergibt es neue Fußabdrücke an meiner Wand, Größe 46.
Irgendwann verabschieden sich die ersten meiner Freunde und ich nehme entsetzt wahr, dass es bereits 23.30 Uhr ist. Mist, der Peter muss dringend heim! Aber wie soll das bitteschön gehen? Ich schnappe mir wieder die drei kräftigen Kumpels und bitte sie, den Peter in die Senkrechte zu bringen. Weil wir ihn die Treppe hinunter und zum Auto schaffen müssen. Sie sehen mich ungläubig an. »Wie sollen wir, bitte schön, diesen langen Kerl heil die Treppe hinunterkriegen? Aus dem zweiten Stock? Laufen kann der bestimmt nicht!«
Da haben sie allerdings Recht, aber es muss irgendwie gehen. Ich mag mir einfach keinen Einlauf bei Mama abholen!
Es IST schwierig. Kaum, dass man Peter auf seine Füße stellen will, wird ihm wieder schlecht. Stehen kann er nicht, außerdem ist er wütend und schlägt um sich. Er will unbedingt unter seinem Telefonbuch weiterschlafen. Wir lassen das Peterchen erst einmal ausgiebig das Klo vollkotzen, dann zerren wir es mit Gewalt aus der Wohnung. Im Treppenhaus kommen wir arg ins Schwitzen, denn der Peter ist nicht nur unhandlich, sondern schwankt gefährlich auf den Treppenstufen herum. Dazu brüllt er jetzt auch noch unflätig Schimpfwörter, die es eigentlich gar nicht gibt. Die hat er im Rausch wohl selber erfunden. Im ganzen Haus öffnen sich Wohnungstüren und die Bewohner lugen ängstlich durch den Türspalt. Was ist denn da bloß los?
Ich entschuldige mich bei den Leuten, will ja eigentlich nicht gleich nach dem Einzug negativ auffallen, während ich zusammen mit den anderen versuche, nicht mitsamt Peter die Treppe hinunterzufallen. Manchmal ist es knapp; zum Beispiel, wenn Peter sich am Geländer festklammert und unbedingt wieder nach oben will. Zum Telefonbuch. Wenn ich ihm dann mit Gewalt die Finger aufgebogen habe, kriegt er das Übergewicht und reißt die anderen fast mit runter.
Uff, geschafft! Der Peter ist endlich unten und mein Nachbar hält die Tür auf. Jetzt muss Peter noch die 100 Meter bis zum Auto geschleift werden, dann ist Teil 1 dieser Aufgabe erst einmal erledigt. Es ist allerdings noch ein Kunststückchen, den Peter ins Auto zu bekommen, denn mein Toyota Starlet hat keinen allzu großen Innenraum und Peter schlägt noch immer wild um sich, klammert sich überall fest. Jetzt endlich haben wir die Autotür zu bekommen, Peter liegt indes vornübergebeugt mit dem Kopf auf dem Armaturenbrett und wimmert vor sich hin.
Die anderen Jungs fragen mich halbherzig, ob einer mitfahren und uns begleiten sollte; sie sind sichtbar erleichtert, als ich verneine. Die sind schon geschafft genug, das Ganze war ja auch meine eigene Schuld.
Während ich losfahre, bereue ich meine Entscheidung bereits. Was würde ich denn machen, wenn ich Autofahren muss und Peter greift mir womöglich ins Lenkrad, kotzt mir ins Auto oder was sonst ihm einfallen mag? Ich greife ins Handschuhfach und händige ihm die Betriebsanleitung für das Auto aus, weil ich hier kein Telefonbuch zur Hand habe und er sich wieder zudecken will.
Ich übertrete sämtliche Verkehrsregeln und fahre viel zu schnell zur Wohnung meiner Eltern, denn für heute will ich den lieben Peter nur noch loswerden. Als wir ankommen, muss ich ihn wieder mit Gewalt aus dem Auto zerren, dieses Mal jedoch ohne fremde Hilfe, ganz alleine. Es gelingt trotzdem einigermaßen, weil die kalte Nachtluft Peters Lebensgeister wieder kurz aktiviert. Er weiß allerdings immer noch nicht, wer oder wo er ist, stützt sich schwer auf mich und jammert. So wanken wir zu zweit auf die Haustüre zu. Wenn Mama das sieht, kann ich was erleben! Hoffentlich schaut sie nicht aus dem Fenster.
An der Haustüre rutscht Peter wie in Zeitlupe hinunter, bleibt mit starrem Blick in der Hocke, an die Tür gelehnt, sitzen. Da kommt mir ein brillanter Einfall: ich klingele einfach und verschwinde. Heute bin ich viel zu fertig, um meiner Mutter etwas zu erklären. Das reicht morgen auch noch.
Gesagt – getan! Schon sitze ich im Auto, fahre wie der Teufel zurück zu meiner Party. Und wundere mich, dass meine Mutter gar nicht empört anruft, was ich mit ihrem Peterchen gemacht hätte.
Nachdem die Gäste später alle gegangen sind, befällt mich erst einmal der Katzenjammer: meine schöne neue Wohnung gleicht einem Schlachtfeld. Ich räume provisorisch auf, wische auch die Kotze aus meinem Badezimmer. Und stelle fest, dass der Schnaps tatsächlich bis auf den letzten Tropfen vernichtet wurde.
Am nächsten Tag rufe ich bei meinen Eltern an und will wissen, wie es Peter geht. Ich erfahre den Grund, warum in der Nacht niemand erbost bei mir angerufen hatte: der Peter konnte sich an gar nichts erinnern, hatte den totalen Filmriss. Er wusste weder, dass er jemals in meiner Wohnung gewesen war, noch, dass ich ihn heimgefahren hatte. Gar nichts. So denkt meine Mutter, er sei woanders auf Sauftour mit seinem Kumpel gegangen, will diesen als Schuldigen zur Sau machen. Das kann ich nun doch nicht dulden und erzähle notgedrungen die Wahrheit.
Als Mama wütend loslegt, bin ich dann heilfroh, eine eigene Wohnung zu haben, bei der ich die Türe absperren und den Telefonstecker ziehen kann. So verabschiede ich mich recht schnell, bewaffne mich mit Putzlappen, Farbe und Pinsel, um die restlichen Spuren der Nacht zu beseitigen.
Und mein Bruder? Als er nicht mehr grünlich im Gesicht ist, beteuert er erneut, er werde nie mehr etwas trinken. Aber dieses Mal hält er sich daran, schon beim Geruch von Schnaps wird ihm jetzt schlecht.
Manchmal heiligt der Zweck die Mittel.