Bei Ostwind hörten wir die Leute schreien. Immo Opfermann
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„Illegales Lager“, „illegales Gefangenenlager“, „illegales KZ“ (in)
Dormettingen, „wildes Lager“, „französisches Häftlingslager“ oder „Dormettinger Todeslager“, „Schwarzes Lager“: Mehr als ein halbes Dutzend Bezeichnungen waren und sind bis heute über dieses Lager im Umlauf bzw. urkundlich im Totenbuch von Dormettingen bezeugt. Der Begriffswirrwarr spiegelt die Unsicherheit der Verhältnisse und das Unwissen über die Zustände im Lager. „Schwarzes Lager“ trifft den fürchterlichen Sachverhalt, dass nämlich schwärzeste Taten, Verbrechen von Verbrechern begangen wurden. „Schwarzes Lager“ Dormettingen steht dafür, dass Täter sich auf brutale Weise austobten, Opfer bestialisch quälten und ermordeten, sich bereicherten, indem sie die Wohnungen der Verhafteten plünderten.
Nach dem Lärm der letzten Kriegstage war die Stille vor der Ankunft der Sieger am 20. April 1945, einem Freitag, zu spüren: Ab dem 17. April, die ganze Woche schon, hatte man die Geräusche der Auflösung der Lager in Schömberg und Schörzingen gehört und gesehen, vorher bereits auf den Bahnhöfen Dotternhausen und Schömberg den Abtransport der Gefangenen in offenen Güterwaggons beobachtet. Den letzten Fliegerangriff auf das Zementwerk am 18. April, bei dem der Schornstein zerstört wurde, konnten Anhänger wie Gegner des Regimes als sichtbares Zeichen des endgültigen Untergangs werten. Noch am 20. April hatten kurz vor dem Eintreffen der Franzosen englische Flugzeuge die SS-Baracken des Lagers Dautmergen bombardiert, fünf getötete SS-Männer wurden hastig auf dem Schömberger Friedhof begraben: Endzeitstimmung und Angst vor Chaos, vor der Zukunft nach dem offensichtlichen Scheitern des Nationalsozialismus, vor der erwarteten Rache der Sieger beherrschten je nach Temperament die Menschen. Aus dem Schömberger Gasthaus „Traube“ sind Parolen wie „Der Friede wird furchtbar“ und „Sauft und fresst, die gemeinsame Himmelfahrt steht vor der Tür“ von Angehörigen der SS überliefert.6 Denn genau zwölf Jahre nachdem die Stadt Schömberg am 18. April 1933 Adolf Hitler zum Ehrenbürger gemacht hatte, war das Naziregime zu Ende.
6 Freundliche Mitteilung der Traubenwirtstochter E. Z. – Vgl. Opfermann, Schömberg 1919–1946. In: Geschichte der Stadt Schömberg. Herausgegeben im Auftrag der Stadt Schömberg anlässlich der 750-Jahr-Feier 2005 von Casimir Bumiller, S. 236 f.
„Die tiefe Niedergeschlagenheit einer Bevölkerung, die noch kaum die militärische Katastrophe Deutschlands realisierte“, wurde von den Siegern festgestellt.7
7 So wird der französische Administrator Oberst Jean Gonnet zitiert bei Wilhelm Foth: 1945–1949: Chaos und Neuanfang. In: „Heimatkundliche Blätter“ Balingen Nr. 1 Jahrgang 43, 31.01.1996.
Drei Stempel der französischen Besatzungsmacht des Jahres 1945. Oben vom 5. Mai, Gignoux (?), Sûreté mit dem Vermerk „Vu“ = „gesehen“, unten November 1945, Kübler.
Selbstverständlich war bei aller Unsicherheit für viele Vorsicht geboten. Zwar glaubte man sich aus zwölf Jahren Diktatur zu kennen, sodass man sich fragte, wer nun nach der Niederlage opportunistisch auf wessen Seite sei, wer wie zur Rechenschaft gezogen werde oder davonkomme: Profiteure des Regimes mussten ja mit Gefangennahme, Verhaftung und Aburteilung rechnen. „Solange die Deutschen noch die Uniform getragen haben, hat man nichts gegen den Hitler gehört, erst als die Franzosen kamen, dann hat man alles mögliche gehört vom deutschen Mund. Worte gegen den Hitler, die sie da gefunden haben … Sie wussten, jetzt kommt die Besatzung und ‚wenn wir etwas getan haben, dann werden wir vielleicht zur Verantwortung gezogen.‘ So war die Lage“, sagte Eduard Rock-Tabarowski, ein befreiter griechischer Zivilarbeiter zur Situation.8 Nun begannen Schweigen und Sprachlosigkeit aus Angst, verständlich, wenn man bedenkt, dass kriegsgefangene Franzosen seit Ende des Jahres 1940 z. B. in Schömberg eingesetzt waren und viele Schömberger vier Jahre lang von den französischen Kriegsgefangenen hatten profitieren können. Listen aus dem Stadtarchiv Schömberg registrieren den „Nachweis über den Einsatz von Kriegsgefangenen“, der zumindest in den Jahren 1942/43 ziemlich genau dokumentiert ist. Nimmt man die Nachkriegsliste, die nach dem „Befehl No 1792 des Generals Koenig“ angelegt wurde, hinzu, so handelt es sich um 31 kriegsgefangene und 141 deportierte Franzosen, die bei der DÖLF (s. o.) und in der Landwirtschaft hatten arbeiten müssen, nachdem sie im Rathaus angefordert worden waren. Nahrungs- und Waschmittel waren vom Lebensmittelgeschäft Faulhaber mit der „Stadtgemeinde“ abgerechnet worden.9 Die französischen Kriegsgefangenen hatten zunächst in der Schömberger Zehntscheuer in einem Anbau neben dem Leichenwagendepot, danach in der sog. „Bläsle-Fabrik“ Unterkunft gefunden, der Betreiber der Wirtschaft „Lamm“ hatte das Essen geliefert.10
8 Eduard Rock-Tabarowski, ehemaliger Zwangsarbeiter aus Athen im Gespräch mit Dorothee Wein am 01.02.2006: „Wir waren Menschen zweiter Klasse.“ Teile des Gesprächs sind veröffentlicht in Volker Mall/Harald Roth: „Jeder Mensch hat einen Namen“. Gedenkbuch für die 600 jüdischen Häftlinge des KZ-Außenlagers Hailfingen-Tailfingen. Berlin, 2009, S. 261 ff.
9 Stadtarchiv Schömberg Nr. 1562. – Berücksichtigt man die Eintragungen im Schuldenbuch des Lebensmittelgeschäftes Faulhaber, so werden bereits im Dezember des Jahres 1940 „5 Eßtöpfe“ für „Franzosen“ benötigt, die zu Lasten des Rathauses aufgeschrieben sind. Diesem Buch ist zu entnehmen, dass dem Rathaus gelieferte Nahrungsmittel wie „Kaffee, Kaffeeersatzmittel, Marmelade, Pudding, Reis, Käse, Grieß …“, Waschmittel „Imi, Henko, Waschpulver, Weißwäsche“, aber auch Hygieneartikel wie „Seife, Rasierseifen“ vermerkt wurden. Man kann deshalb feststellen, dass es den Franzosen zu diesem Zeitpunkt des Krieges, weil sie in der Verantwortung der Wehrmacht standen, besser ging als den späteren KZ-Häftlingen, die von der SS beschafft und von der OT ausgebeutet wurden. – Kopien des Schuldenbuches freundlicherweise von Marlies Pfeiffer-Blepp, deren Mutter Wera geb. Faulhaber die Waren für die Franzosen lieferte.
10 Freundliche Mitteilung von Josef Faulhaber, Fuhrunternehmer, dem Verfasser mitgeteilt am 21. März 2009. – Das Dokument A 1384 aus dem Stadtarchiv Schömberg bestätigt die Einrichtung des Kriegsgefangenenlagers. „Bläsle“-Fabrik, weil in dem Gebäude vorher Mundharmonikas für die Firma Hohner hergestellt worden waren. Vgl. Opfermann, Schömberg-Chronik.
Der Tag der „Überrollung“ war ein „Tag der Befreiung“ für die vielen fremd- und „ausländischen Zivilarbeiter“, für Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge, die teilweise in die Orte, in denen sie in Lagern interniert gewesen waren, zurückkehrten, um ihre Landsleute zu suchen und zu beraten, wie es weitergehen werde. „Der Kreis Balingen hatte damals 70300 Einwohner; dazu kamen 9000 deutsche Flüchtlinge aus luftkriegsgefährdeten Gebieten, z. B. dem Ruhrgebiet […] und 8000 Ausländer […] aller Nationen“.11 Ein Zeitungsbericht von 1955 spricht nach zehn Jahren sogar von 12000 zur Zwangsarbeit verpflichteten Menschen, die eingesetzt gewesen seien.12
11 Foth, wie Anm. 7.
12 Balinger Volksfreund vom 20.04.1955, Sonderbeilage „Das Ende zwischen Neckar und Oberrhein“.
„Die lokale Verwaltung stand einer solchen Lage unfähig gegenüber. Manche Beamte waren Soldaten, und ihren zu alten Vertretern fehlte es an Aktivität und Kenntnissen. Die Polizei war nicht in der Lage, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Feuerwehr und die öffentlichen Dienste waren desorganisiert“.13