Und mittendrin kam die Kraft. Regina Endraß
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Читать онлайн книгу Und mittendrin kam die Kraft - Regina Endraß страница 2
Dieses Gefühl kannte sie auch heute noch gut, auch die damit verbundene Angst. Verdammt, dachte Lisa, die Zeit zieht einem zwar Falten ins Gesicht, aber sie nimmt einem nicht die Angst!
Da war dieses Bild, Lisa als kleines Mädchen, das nie ein Mädchen sein wollte, wie sie mit bloßen Händen Gräber aushob, für kleine Vögel, die aus dem Nest gefallen waren. Dutzende von kleinen, geflochtenen Holzkreuzen waren unter den Büschen, wohin sie sich als Kind immer zurückgezogen hatte. Die anderen Kinder grinsten verständnislos. Irgendwie war sie dem Tod schon immer näher gewesen als dem Leben.
Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wann sie aus dem Nest gefallen war. Seit sie denken konnte, war da dieses Gefühl des nicht aufgehoben seins.
Sie ging erst nach draußen, als Leben auf den Straßen war. Das geschäftige Tun der Leute machte ihr irgendwie Mut. Wie wenn sie dazu gehören würde, ging sie zielstrebig durch die Stadt. Sie funktionierte, jeden Tag aufs Neue. Sie hätte nie gedacht, dass sie einmal selbständig sein würde, und sich ein Leben ohne das Gloria nicht mehr vorstellen konnte. Auch wenn sie der Gedanke daran nicht mehr losließ.
Der Mann hinter dem Bankschalter grinste dämlich übers ganze Gesicht und streckte ihr, in dem Glauben, ihr damit einen riesengroßen Gefallen zu bereiten, unaufgefordert ihre Kontoauszüge entgegen. Sie versuchte, diesen verhassten Anblick mit einem ähnlich dämlichen Grinsen zu erwidern und flüchtete nach draußen. Oh Gott, irgendwann klatsche ich dir eine vor allen Leuten!
Er hatte ihr wiederholt aufgelauert, wurde aufdringlich und versuchte sie zu betatschen. Damals war sie kurz davor, ihn mit voller Wucht in seinen „Allerwertesten“ zu treten.
Warum hab ich’s bloß nicht getan? Vielleicht hätte er dann gewimmert wie sein dämlicher Hund (obwohl der Hund ja nichts dafürkonnte). Und vielleicht hätte er dann mal was kapiert?
Sie spürte ihre Aggression ansteigen. Doch sie ärgerte sich vor allem über sich selbst. Über ihre Unsicherheit und ihre Verletzlichkeit. Immer noch konnten sie solche Typen aus dem Gleichgewicht bringen. Ihre Mauer war so brüchig und gleichzeitig so sinnlos geworden. Sie machte sie schwerfällig und hart und sie sehnte sich nur noch nach Leichtigkeit und vollkommener innerer Freiheit. Das Leben erschien ihr plötzlich viel zu kurz für all das, was sie noch lernen wollte. Am liebsten hätte sie sich jetzt selbst geschlagen, für all ihre Mutlosigkeit und Trägheit!
Im Büro angekommen, lächelten ihr alle freundlich entgegen. Claudia, ihre Mitarbeiterin, kam ihr, das Telefon in der Hand, hastig entgegengelaufen:
„Guten Morgen Lisa, Telefon für Dich!“
„Morgen, danke.“ Aus ihren Gedanken gerissen, nahm sie den Hörer in die Hand. „Guten Tag, Lisa Vogel am Apparat…“
„Hallo, Lisa, ich bin’s!“
„Marion, wie geht’s?“
„Ich muss dringend mit dir sprechen, kannst du dir frei nehmen?“
„Was, jetzt gleich?“
Was hat sie bloß wieder angestellt! Marion war ihre beste Freundin, um nicht zu sagen, die einzige. Natürlich kannte sie viele Menschen, aber mit Marion war das etwas anderes. Seit der Schulzeit kannten sie sich, und später hatten sie einige Jahre lang zusammengewohnt.
Während Marion die Fachoberschule absolvierte und später Soziologie studierte, versuchte sich Lisa in verschiedenen Ausbildungen, die sie aber alle nicht beendete. Trotzdem hatte das ihrer Freundschaft nicht geschadet, das nicht. Die gemeinsam erlebte Jugend hatte sie verbunden und lange Zeit dachte Lisa, dass sie auch nichts je trennen konnte.
Marion war mittlerweile auch selbständig, und seit Lisa das Gloria hatte, hatten sie beide wieder eine ähnliche berufliche Situation. Für Lisa war Marion im Grunde genommen die einzige Frau, die sie wirklich ernst nehmen konnte. Mit den meisten Frauen konnte Lisa nicht allzu viel anfangen. Sie waren ihr meistens zu oberflächlich.
Marion dagegen war eine starke und vielseitige Persönlichkeit, mit Hirn und Gefühl, und sie konnte eine beinahe unheimliche Power an den Tag legen. Letzteres liebte Lisa ganz besonders an Marion. Für keine andere Frau konnte sie je auch nur annähernd ähnliche Gefühle entwickeln.
Wenn sie sie jetzt gleich sprechen wollte, dann musste es einfach wichtig sein. Wie konnte sie das abschlagen, schließlich war sie selbständig und konnte arbeiten wann sie wollte.
„Gut, wo soll‘n wir uns treffen?“
„Ich komm zu dir, ja?“
Schweigend saßen sie vor ihren dampfenden Kaffeetassen und sahen sich an. Marion sah irgendwie verändert aus. Da war so ein geheimnisvolles Funkeln in ihren Augen.
„Schieß los, Mädel!“
„Lisa, ich hab einen Mann kennengelernt!“
„Und deswegen holst du mich von der Arbeit, bist du noch zu retten?“
„Gute Frage! Tut mir leid Lisa, aber ich musste es jetzt einfach loswerden. Zu lange schon fress ich‘s in mich rein. Ich muss darüber reden, vielleicht wird es mir dann etwas klarer.“
„Über was willst du dir klar werden?“
„Jetzt frag nicht so blöd, schließlich bin ich glücklich verheiratet und außerdem Mutter. Ich bin vollkommen durcheinander und kann ihn einfach nicht vergessen, und ich habe einfach noch nie zwei Männer gleichzeitig geliebt und …!“
„Du hast dich verliebt. Bist du dir sicher?“
So kannte sie Marion gar nicht. Gleichzeitig wurde ihr irgendwie unbehaglich, kroch da etwa der Neid in ihr hoch? Sie sehnte sich in letzter Zeit auch öfter danach, umschwärmt und umschmeichelt zu werden. Gleichzeitig konnte sie im Moment mit den wenigsten Menschen etwas anfangen, geschweige denn mit anderen Männern.
Marion redete und schwärmte ununterbrochen, und das Funkeln in ihren Augen wurde immer stärker, bis es sich endlich in riesigen Krokodiltränen löste.
„Ich glaube, jetzt brauchst du erst mal einen Schnaps!“
Marion kippte zwei Grappas hintereinander weg, schnaufte sehnsüchtig und lehnte sich zurück.
„Na siehst du, jetzt geht’s dir doch besser. Wie hast du ihn eigentlich kennengelernt?“
„Das ist ja auch so eine verrückte Geschichte! Ich war doch letzten Monat auf dieser Fortbildung, du weißt schon. Ich wollte diesmal mit dem Zug fahren. Und am Tag vorher dachte ich an diese öde Zugfahrt und den anschließenden einsamen Abend und ob ich nicht doch besser mit dem Auto fahren sollte … Und im selben Moment hatte ich so eine Art „Tagtraum“, du kennst das ja.“
Natürlich kannte sie das. Marion war die einzige, der sie je davon erzählt hatte. Die meisten ihrer Tagträume behielt sie jedoch für sich. Schließlich waren diese „Botschaften“ nur für sie bestimmt. Meistens waren es eher nebensächliche Dinge. Die letzte wichtige Intuition dieser Art hatte sie vor zwei Wochen:
Beim Frühstücken ging sie ihren Tagesplan durch. Dabei fiel ihr ein, dass sie nicht wie geplant mit dem Fahrrad, sondern mit dem Auto zur Arbeit musste. Da war nämlich noch der Termin beim Steuerberater. Auf