Absender Ost-Berlin. Thomas Pohl
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Absender Ost-Berlin - Thomas Pohl страница 2
Die Minuten verstrichen. Er hörte nichts als das Prasseln des Regens an den Fensterscheiben. Vier Zimmer, Küche, Bad. Eigentlich viel zu groß für ihn. Und dann. Ein entferntes Geräusch im Erdgeschoß ließ ihn aufhorchen. Sein Blick wandte sich in Richtung der offenstehenden Wohnungstür. Er vernahm das unverkennbare Zusammenspiel der dicken Eichentür mit den altertümlichen Beschlägen. Michael schreckte hoch. Noch auf dem Weg zum Flur vernahm er das blecherne Klappern seines Briefkastens. Als er bereits die Treppe hinunterrannte und fast ein Stockwerk hinter sich hatte, schnappte die Haustür zurück in ihr Schloss. Michaels schnelle Schritte auf der hölzernen Treppe schallten durch das Haus. Im Erdgeschoss angekommen, richtete er nur im Vorbeirennen seinen Blick auf seinen Briefkasten. Seine Hand drückte bereits wie von alleine die schwere Klinke der Haustür herunter. Ohne die Tür komplett zu öffnen, schob er seinen schmalen jugendlichen Körper durch den Spalt auf das Trottoir. Michael spürte den Regen auf seinen Haaren. Er drehte sich um seine eigene Achse. Er war bereit zu rennen. Nur in welche Richtung? Suchend drehte er seinen Kopf um die eigene Achse. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite lief eine alte Frau mit ihrem Dackel von Baum zu Baum. Ansonsten war in der Nähe niemand zu sehen. Michaels Rufen schallte durch die abendliche Stille:
„Ist hier eben jemand herausgekommen?“
Die Frau sah ihn erschrocken an. Sie musste etwas gesehen haben. Michael fragte nach.
„In welche Richtung ist er gelaufen?“
Die Frau deutete in Richtung der Mauer. Der Hund zog hysterisch an der Leine und kläffte ihn an. Michael rannte los. Diesmal würde er — würden sie — ihm nicht entkommen. Wenigstens die leise Spur eines Hinweises erhoffte er sich. Doch bereits an der nächsten Straßenecke beschlich ihn der vertraute Verdacht, dass er wieder erfolglos sein würde. Er lief trotzdem weiter. Er war noch nicht bereit aufzugeben. Sein Körper hatte noch genügend Energie. Also rannte er. Die Richtung war ihm inzwischen egal. Er ließ sich von der Mauer auf der leeren Straße leiten. Die Graffitis huschten in seinen Augenwinkeln an ihm vorbei. Sich der Sinnlosigkeit seiner Verfolgungsjagd inzwischen bewusst, steuerte er auf den hölzernen Aussichtsturm zu. Er verlangsamte seinen Gang und stieg die rutschigen Stufen empor. Der Regen bildete eine glatte nasse Oberfläche auf dem Holz. Oben angekommen, wurde ihm bewusst, dass seine Verfolgung hier schon wieder endete. Michael fasste an das nasse Geländer und schaute über die Mauer. Erst jetzt spürte er seinen durchnässten Kragen. Seine nasse Hose. Die Panzersperren und der Stacheldraht hinter der Mauer waren hell erleuchtet. Die Grenzer auf dem nächsten Wachturm richteten ihre Ferngläser auf ihn und Michael schaute ihnen mit unverblümt strengem Blick entgegen. Ihn beschlich das ihm bekannte Gefühl. Als würden sie ihn kennen. Als hätten sie ihn hier erwartet. Als hätte er genau das getan, was man von ihm verlangt hätte. Er fühlte sich abermals an der Nase herumgeführt. Fühlte sich eigenartig unterlegen. Er fühlte sich manipuliert.
Michael schlenderte durch den Regen zurück zu seiner Wohnung. Vorbei an der Mauer, die ihm den Weg wies und zugleich mit ihren fast vier Metern Höhe wie ein einseitig bemalter Fremdkörper durch die Stadt schnitt. Obenauf die hohle Betonrolle, die den entkräfteten Flüchtlingen beim Überklettern den letzten Halt versagen sollte. Vorausgesetzt sie wären überhaupt bis dorthin gekommen. Hätten die Selbstschussanlagen, den Stacheldraht, die scharfen Hunde und den Schießbefehl der Grenzer überlebt. Die Perfektion der Abschirmung schuf dennoch ein kurioses Bild. So diente sie den unzähligen Künstlern mit ihren Sprühdosen als Leinwand aus Beton. Wenn auch nur von westlicher Seite.
Die Regentropfen liefen über sein Gesicht. Und selbst die Nässe unter seiner Kleidung nahm er billigend in Kauf. Die Straßen waren inzwischen wie leergefegt. Beim Aufschließen der Haustür fragte er sich wieder, wie der — wie diejenigen — an den Schlüssel dieses Schlosses gekommen waren. Wie sonst könnten sie so einfach hier hereinkommen? Er schaute sich das Schloss genauer an. Wie immer waren keine Aufbruchspuren zu erkennen. Michael ging mit langsamen Schritten auf seinen Briefkasten zu. Er fixierte lange sein Namensschild. Michael Wiesner. Was machte ihn für den — für diejenigen — so wichtig? Warum er? Er schloss seinen Briefkasten auf und öffnete die Klappe. Der Anblick des Umschlages überraschte ihn nicht. Das raue Pergament hatte er in keinem westdeutschen Bürobedarfsgeschäft je entdecken können. Er nahm ihn heraus und war lediglich verwundert über das deutlich höhere Gewicht als sonst. Er drehte seinen Kopf für einen prüfenden Blick in das Treppenhaus. Es war niemand zu sehen und zu hören. Dann riss er den Umschlag auf und zog einen Papierstapel heraus. Auf der ersten Seite stand in Großbuchstaben:
„INOFFIZIELLES GESPRÄCHSPROTOKOLL
FRANZ-JOSEF STRAUSS
(MINISTERPRÄSIDENT VON BAYERN)
MIT ERICH HONECKER
(STAATSRATSVORSITZENDER DER DDR)“
2. Der Jagdausflug
Der Wald lag weit entfernt von der nächsten Ortschaft. Nahezu abgeschirmt. Die Wege, die in ihn hineinführten waren breiter, als man es von üblichen Waldwegen gewohnt war. So breit, dass sich die Radstände der großen Limousinen mühelos in das tiefe Grün schieben konnten, ohne ihre Insassen auf unbequeme Art durchzurütteln. Überhaupt machte es den Eindruck, dass alles in diesem Wald überdimensionaler, größer und gewichtiger war. Die Bäume schienen auf diese eigenartige Szenerie mit ihrer urtypischen Gelassenheit zu schauen. Vielleicht auch deshalb, weil dieser sandige Wald bereits seit Jahrhunderten dieses besondere Publikum gewohnt war.
Kein Zittern. Keine Nervosität. Seine Hand war erstaunlich ruhig. Der kalte, hölzerne Griff des Gewehres berührte seine Wange. Langsam erwärmte er sich durch den Hautkontakt. Karl atmete noch einmal tief, kniff das rechte Auge zu, wirkte ruhig. Trotz des kalten Entzuges. Er spürte nicht einmal den Hauch eines Bedürfnisses nach Alkohol. Vielmehr forderte die Waffe seine volle Aufmerksamkeit. Obwohl das Gewehr zur Spitzentechnologie dieses Systems gehörte, war seine Beschaffenheit, seine Materialien, sein komplettes Design Abbild des Ostblocks. Irgendwie hässlich. Nur seine Zielgenauigkeit stellte er nicht in Frage. Sein Blick richtete sich kurz nach oben. Der Wind bewegte sanft die Blätter in den Baumwipfeln. Zu schwach, um die Flugbahn der Kugel auf dieser Distanz zu beeinflussen. Ein letztes Einatmen. Ausatmen. Karl verharrte, spürte seinen eigenen Puls. Fokussierte durch das Zielfernrohr. Unterdrückte den Reflex der nächsten Einatmung. Es war ein Moment der Stille. Ein Moment, der nur ihm gehörte. Ihm und seinem Ziel. Dann drückte er den Abzug. Der Schuss zerschnitt die Stille des Waldes. Gefolgt von dem Echo. Das Raunen der umherstehenden Männer verwandelte sich langsam in einen anerkennenden Applaus. Die Blicke wanderten in die Richtung des getroffenen Hirsches. Gut 150 Meter lag er von Karl entfernt im Dickicht des Waldes. Nur seine Augen zeigten den Ansatz eines Lächelns. Karl verstand nicht, warum ihm die Ehre zuteil wurde, diesen Schuss abzufeuern. Immerhin hatte er sich zuvor mehrmals vergewissert. Ihm lag überhaupt nichts am Töten. Doch als selbst sein oberster Dienstherr ihm mit einer wohlwollenden Geste den Schuss freigab, war er der einladenden Aufforderung gefolgt.
Die vielen grünen Gummistiefel setzten sich in Bewegung und stapften über den feuchten Untergrund. Es waren jene in Volkseigenen Betrieben produzierte unbequeme Treter, die das tiefe Gras platt traten und sich nach einigen Dutzend Schritten wieder im Halbkreis anordneten. Die Gruppe der Männer stand um das leblose Tier. Karl schaute in die weit aufgerissenen Augen des toten Hirsches. Als würden die Pupillen des Wilds für einen letzten Moment tief in seine schauen. Fingerdick quoll der Blutstrom aus dem Einschussloch. Er konnte seinen Blick einfach nicht von dem leblosen Körper lösen. Eine fremde Hand legte sich fest auf seine Schulter.
„Donnerwetter, grandioser Schuss. Erstaunlich gut dafür, dass sie nie bei der Nationalen Volksarmee gedient haben.“