Absender Ost-Berlin. Thomas Pohl
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Es war kurz still zwischen den beiden. Nur das leise Plätschern der Fontäne und das Getrappel der Schritte auf dem Boden mischte sich mit dem Geplapper der Passanten. Anna brach die Stille: „Schreibt dein Vater immer noch?“
Michael senkte seinen Blick auf den Betonasphalt. Anna spürte, dass ihm die Antwort auf ihre Frage plötzlich schwerer fiel. Dann hob er seinen Blick in Richtung des leuchtenden Metalls des Fernsehturms.
„Nein, … er ist tot.“
Anna spürte ein Räuspern in ihrem Hals: „Wann …“
Michaels Unterbrechung erfolgte sanft.
„Noch nicht lange her. Kurz nach meinem Abitur. Er starb an Krebs.“
Anna legte ihren Arm um Michael und schwieg.
6. Genosse Telemann
„Genosse Telemann?“
Karl fühlte sich in seinem neuen Ost-Berliner Büro noch wenig heimisch. Ihm war nicht klar, ob er in diesem massiven Stasi-Bau eigene Bilder an die Wände hängen durfte, geschweige denn eigenes Mobiliar mitbringen. Folglich harrte er der Dinge, bis ihn irgendein non-informeller Hinweis innerhalb des Systems diese Frage beantworten würde.
„Genosse Telemann?“
Bis dahin würde er wohl oder übel noch auf den nüchternen Einheitsrequisiten ausharren müssen. Zudem gab es in seinem Arbeitsalltag nur wenige Momente, in denen er sich tatsächlich dem undekorierten Ambiente seines kleinen Büros zuwenden konnte.
„Genosse Telemann?“
Karl blickte hoch. Er schaute auf den untersetzten Mann, der im Türrahmen seines Büros stand. Sein Haar war streng nach hinten gekämmt. Der Blick nicht minder streng. In der rechten Hand hielt er einen jener grauweißen Umschläge aus schlecht geblichenem Papier. Obwohl Karl sich der Ursache der mangelnden Papierqualität durchaus bewusst war, ließ seine westdeutsche Vergangenheit für einen kurzen Moment das Gefühl einer arroganten Missachtung in ihm aufsteigen. Und zum selben Zeitpunkt verabscheute er sich selbst für diesen primitiven Gedanken. Karl versuchte die Oberflächlichkeit dieses westlichen Gedankengutes aus seinem Gehirn zu verbannen. Doch im gleichen Moment übermannte ihn ein neues abwertendes Gefühl. Es galt der Erscheinung jenes untersetzten Mannes in Uniform, der wie eine lächerliche Imitation seines Chefs aussah. Zu offensichtlich war der Versuch, in die optischen Fußstapfen seines offenkundigen Idols zu treten. Erich Mielke. Selbst der Tonfall orientierte sich an ihm. Karl schüttelte innerlich den Kopf, gemischt mit einer gehörigen Portion Amüsiertheit. Wann nur würden diese staatsfeindlichen Gedanken endlich nicht mehr sein Denken dominieren? Er schüttelte sich, als würden damit seine politischen Zweifel zerstreut.
Der kleine dicke Eindringling unternahm einen weiteren Versuch der Kontaktaufnahme.
„Genosse Telemann?“
„Ja, bitte?“
„Hab` ich Sie gestört, Genosse Telemann?“
Das Männlein verlor in seiner Stimmlage an Schärfe. Zu groß schien der Respekt gegenüber Karl zu sein. Vielleicht beruhte die vermeintliche Hochachtung auch nur auf Anordnung seines Vorgesetzten Erich Mielke. Zumindest erschien er mit seinem imitatorischen Auftritt so, als hätte er sein Leben dem Chef der Staatssicherheit gewidmet. Selbst Mielkes Berliner Akzent schien er nachzueifern. Karl musste wieder innerlich lächeln. Nach außen machte seine Mimik jedoch das Spiel mit.
„Nein, keinesfalls. Ich war nur in Gedanken.“
„Wegen des neuen Grenzkonzepts oder haben Sie einen neuen Plan bezüglich des Nachrichtenmannes?“
Ohne die Frage zu beantworten nahm Karl den Umschlag entgegen. Das hatte er als erstes innerhalb dieses Systems gelernt. Schweigen, wenn du nicht reden willst. Eine Tugend, die nur wenige innerhalb dieses Gebäudes mit seinen unübersichtlichen Gängen beherrschten. Karl verstand es, Information pointiert und nur dann an den Mann zu bringen, wenn ihm danach verlangte. Seine Taktik: Wenig reden und damit Aufmerksamkeit erzeugen. Spannung. Und wenn er dann seinen Mund aufmachte, galt ihm die ganze Aufmerksamkeit. Damit schuf er eine Aura um sich, die selbst seine Vorgesetzten beeindruckte.
„Richten Sie Genosse Mielke aus, dass das Protokoll zwischen dem bayrischen Ministerpräsidenten und Genosse Honecker sein Ziel erreicht hat.“
„Sehr wohl.“
Der Untersetzte zog die Tür hinter sich zu. Doch Karl lag noch etwas auf der Seele.
„Und noch etwas.“
Die Tür öffnete sich erneut. Der Kopf mit der Mielke-Frisur lugte erwartungsvoll durch den Spalt.
„Ja, Genosse Telemann.“
„Nennen Sie ihn nicht Nachrichtenmann.“
7. Die Hausarbeit
Michael konnte sich an keine Umarmung seines Vaters erinnern. Eigentümlicherweise hatte er sie auch nie vermisst. Bis eines Tages sein Lieblingsonkel ihn fest mit beiden Armen umschlang. Michaels Wange wurde fest an den dicken Bauch des Verwandten gedrückt. Angenehm war es nicht. Zudem ungewohnt. Michael war damals nicht in der Lage, die Zärtlichkeit zu erwidern. Die Verwunderung seines Onkels über die Passivität des kleinen Jungen würde Michael sein Leben lang begleiten. Diese profane Situation schien ihm wie der Beginn des Bruchs mit seinem Vater.
„Kannst du nicht umarmen?“
In der Frage seines Onkels schwang ein deutlicher Vorwurf. Nicht gegenüber dem Knaben. Michael war sofort klar, wem die Anschuldigung galt. Von da an begann Michael seinen Vater mit zunehmender Skepsis zu betrachten. Dieses Gefühl verlor sich nur in den kurzen Momenten, in denen sein Vater ihm die Welt und die Menschen erklärte. Als seine Schulkameraden noch keinen Gedanken an Rassismus, den Ost-West-Konflikt und andere gesellschaftliche Phänomene verschwendeten, war Michaels Blick bereits geschärft. Vielleicht zu früh. Doch wenn Michael für kurze Augenblicke innehielt, wenn er mitten auf dem Kurfürstendamm in der Masse stehen blieb, um sich umzusehen, wenn er in dem Geplapper der Kneipe sich unwillkürlich auf eine benachbarte Konversation konzentrierte. Wenn er auf die Balkendiagramme der ersten Wahlhochrechnungen starrte, spürte Michael so etwas wie Dankbarkeit in sich aufsteigen. Und in diesen Momenten konnte er fast die vielen fehlenden Umarmungen seines Vaters verzeihen. Dann wurde ihm bewusst, dass die Zuwendung, die ihm widerfuhr, auf anderer Ebene stattgefunden hatte. Doch jetzt war sein Vater tot und konnte ihm keine seiner Beobachtungen mehr mitteilen. Die geteilte Auffassungsgabe war mit ihm gestorben. Michael fühlte sich als alleiniger Erbe einer Bürde, die sein Vater nicht mit ins Grab genommen hatte. Und so gerne er wenigstens mit seinem Lieblingsonkel darüber geredet hätte, so sehr war das inzwischen ebenfalls unmöglich. Kurze Zeit nach der eindringlichen Umarmung hatte sich sein Onkel das Leben genommen.
Der glänzende Linoleumboden reflektierte das tief einfallende Licht am Ende des langen Ganges. Michael hasste das Warten. Dabei saß er erst wenige Minuten auf einem der orangefarbenen Klappstühle, die in Reihen an den Wänden seines Uni-Instituts angeschraubt waren. Ihm war der Muff dieser Räume vom ersten Tag seiner Immatrikulation unangenehm gewesen. Diese Art der Umgebung entsprach so gar nicht seiner Vorstellung von modernem Journalismus.