Hegels Gespenst. Markus Litz

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Hegels Gespenst - Markus Litz

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mit Nickelbrille, dann ein Ministerialrat, der absolut nichts zu sagen weiß, das Ehepaar Weisbrod, Gönner und Mäzene höherer Lehranstalten, und schließlich ein Herr de Varga, wohl portugiesischer Abstammung, welcher leicht schielt, aber durchaus Anregendes zu erzählen weiß, wie zum Beispiel über eine Stadt namens San Andréa oder Sassandra am westafrikanischen Golf von Guinea. Der letzte Termin entfällt, weil den angekündigten Gast am Tag zuvor der Schlag getroffen hat.

      Es gibt eine kleine Ruhepause gegen dreizehn Uhr. Ein schweigsamer Diener bringt einen Teller Kalbfleisch mit Kraut, dazu einen Krug Mineralwasser, eisgekühlt. Seine Joppe aus rötlichem Loden hat am linken Ärmel einen daumenbreiten Riß, der an eine Wunde denken läßt. Den Nachmittag über ist Hegel mit Korrespondenzen beschäftigt und verläßt die Universität bereits gegen siebzehn Uhr, weil ein heftiges Kopfweh plötzlich den freien Lauf seines Geistes behindert.

      Zuhause findet er sich allein. Auf dem Tisch im Flur liegt ein versiegelter Brief. Er erkennt die Handschrift seines Schwagers Gottlieb: verhuschte schwarze Buchstaben, kaum mehr als ameisengroß. Sicherlich neue Nachrichten über jene unglückliche Person, die vor einem Jahr in Ansbach wie aus dem Nichts aufgetaucht ist. Ein verwildertes Wesen namens Kaspar Hauser. Dieser soll fünfzehn Jahre im Dunkeln gelebt haben; vollkommen abgesondert von der Welt.

      Er trinkt einen halben Liter Bier, um zur Ruhe zu kommen. Der Kopf ist eine Mördergrube verwesender Gedanken. Jetzt einzuschlafen wäre ein Glück. Aber es geht nicht. Für den Abend hat sich noch ein Gast angesagt, der wahrscheinlich zum Essen bleiben wird. Echtermeyer. Der einarmige Ästhetiker. In gewisser Weise eine traurige Gestalt. Er soll einen Verein gegründet haben, der sich die Gesellschaft zum ungelegten Ei nennt.

      Nun geht er doch ins Schlafzimmer, um wenigstens eine halbe Stunde zu ruhen. Er zieht also die Schuhe aus und legt sich angezogen aufs Bett. An der grauweißen Zimmerdecke huscht eine Spinne, eine Art Weberknecht. Acht Beine, die nichts zu weben vermögen. Es ist still, so still, daß ihm der Gedanke kommen könnte, er selbst sei der letzte Überlebende einer verschwindenden Welt.

      Die Augen schließen, um nichts mehr sehen zu müssen. Auf einmal kommen die inneren Bilder ins Spiel. Hinterrücks, als lauerten sie unter den Lidern, all die tollgewordenen Schnipsel einer zerschnittenen Wirklichkeit. Dann setzt der Atem für einen Moment lang aus: Und der Träumende sieht seine gestrige Traumgestalt. Es ist derselbe Mohr, der sich geziert vor ihm verbeugt, als wolle er sich eigentlich über ihn belustigen.

      Scardanelli, wenn ich nicht irre, sagt der Träumende, aber der Mohr lächelt verschmitzt und erwidert: Escobar. Er hält etwas in seiner rechten Hand, das an eine Landkarte erinnert: Darauf eine schädelförmige Insel, die wie an zwei Girlanden aufgehängt ist, umgeben von Wasser. Am unteren Rand stehen zwei Männer, in ein Gespräch vertieft. Über ihnen wölbt sich ein mächtiger Schiffsbauch. Und ein anderer Mann, vielleicht der Entdecker jener Insel, steht vereinzelt an der anderen Seite, abgewandt, mit verdecktem Gesicht. Und jener, der sich Escobar nennt, öffnet den fleischigen Mund. So viel Unsinniges, das sich in Sprache verhüllt. Das leere Geschwätz eines Gottes. Er spricht, während seine Augen wie Murmeln hin und her rollen:

      „Ich bin Pèrito, Sohn des Pèro Escobar, Entdecker von Sassandra am Palmenstrand von Guinea, und auch der Insel Sao Tomé. Das hölzerne Schiff meines Vaters erreichte am 21. Dezember 1471, dem Festtag des heiligen Thomas, jene Insel. Die Sonne hatte die Männer wahnsinnig gemacht. Fünf Seeleute waren bereits über Bord gegangen, um im Meer ihre überhitzten Hirne zu kühlen. Alle ertranken. Als die Seemänner dann endlich Land sahen, brachen die meisten in Tränen aus. Hartgesottene Männer heulten wie alte Weiber. Seit Monaten hatten sie nichts weiter vor Augen gehabt als das von Stürmen durchpflügte Meer. Der Proviant war verbraucht. Es gab nur noch verrottete Zwiebeln, verschimmeltes Wasser und ein paar Fässer Branntwein, der den Durst nicht zu stillen vermochte. Sie gingen also an Land, und entdeckten ein Paradies, aus dem die Engel entflohen waren. Männer, Frauen und Kinder; so schwarz wie die Hälfte der Nacht. Das Fremde ist immer das, was Angst hervorruft und mit ihr am Ende das Grauen.

      Aber zuerst war es die reine Freude. Wohlschmeckendes Wasser, Früchte im Überfluß und eine weiche, von Träumen geschwängerte Luft. So ließ es sich leben. Drei Tage lang schliefen die Männer, traumlos und fest. Dann machten sie sich auf, um die Insel zu erkunden. Sie sahen den weißen Sand der Strände, Palmen, Bäume voll seltsamer Früchte, Bäche kristallklaren Wassers, bewaldete Hügel und die aus Bananenstauden gefertigten Hütten der Eingeborenen. Am Anfang hielten diese sich verborgen, wagten sich kaum hervor aus ihren Behausungen, um jene weißen Wesen zu sehen.

      Am vierten oder fünften Tag erreichten einige der Entdecker den in der Mitte der Insel gelegenen Markt der Zauberer. Es war ein lautstarkes Gewimmel aus lauter zusammengewürfelten Einzelheiten. In der flirrenden Mittagshitze sahen sie halbverweste Bisamratten, auf lange Hölzer gespießt, getrocknete Igel, tote Schlangen, die man um Speere gewunden hatte, schwarzgrüne Krötenköpfe mit überquellenden Augen, außerdem auch giftige Kräuter, zu welken Sträußen zusammengebunden. Es gab Zaubertränke, die auf offenem Feuer zusammengerührt und gekocht wurden. Eine brodelnde Hexenküche. Die Zauberer trugen Masken mit den geschnitzten Gesichtern ihrer Götter und Ahnen.

      Die Menschen sangen dabei in einer Sprache, die fern und fremdartig klang. Den Seeleuten erschien es wie ein Gesang, der aus den Wolken gekommen war, um das Gehör zu erfrischen. Sie tranken das aus Bananen gebraute Bier, welches ihnen angeboten wurde. Es war süß und berauschend. Während die Zauberer vor ihren Augen mit langen Nadeln in das Herz einer tollwütigen Ziege stachen und unterdessen ihre Zaubersprüche und Verwünschungen ausstießen, fiel die Nacht wie ein Vorhang herab, bedeckte den Markt, und diesen verwunschenen Winkel der Welt.

      In jener Nacht träumten sie alle denselben Traum. Die Welt war untergegangen und nur sie allein übriggeblieben. Neun Männer, verlassen, im Nichts ausgesetzt. Es gab nur noch den schwarzen unendlichen Raum, und daraus auftauchend zuweilen die Fratzen, welche die Einbildungskraft hervorzaubert. Schwarze Masken im Weiß der Erinnerung. Und eine Stimme sprach zu ihnen:

       Ihr seid allein. Es gibt weder andere Menschen noch Pflanzen, Tiere, Berge und Wasser. Ich aber werde einen Faden zu euch herabwerfen und an diesem Faden kommt ihr nacheinander hinauf und zurück in das Reich des Himmels. Aber bevor ihr hinaufkommt, müßt ihr von all den Dingen träumen, die einmal sein werden. Erst dann können sie wirklich sein. Träumt also von den anderen Menschen, euren Frauen und Kindern, träumt von den Pflanzen und Tieren. Schaut auch die Berge und Flüsse im Traum, bevor alles zu Wirklichkeit wird.

      Und die Menschen fielen im Traum in einen weiteren Traum, der ihnen all das vorstellte, wovon die Stimme zu ihnen gesprochen hatte. Als alles so geschehen wie ihnen befohlen war, kam wirklich ein Spinnenfaden vom Himmel herab. Und sie gerieten in einen heftigen Streit darüber, wer ihn als erster ergreifen konnte. Weil sie sich aber deswegen so zerstritten und sich gegenseitig den Faden aus der Hand rissen, kam letztlich niemand zum Zuge und sie blieben allein, ohne jegliche Aussicht, einmal zurück zum Himmel zu gelangen.

      Als sie endlich erwachten, war es noch immer Nacht. Sie tasteten sich voller Furcht durch die Dunkelheit. Pèro, dem Anführer der Gruppe, gelang es schließlich, in der Finsternis einen schlaftrunkenen Körper ausfindig zu machen, ein unaussprechliches Glück. Also traf sich seine Angst mit der Freude eines namenlosen Mädchens, und er genoß dieses Glück, das kaum eine halbe Stunde lang währte.

      Dann kam der Morgen. Er kroch langsam herauf über die Hügel, und es zeigte sich alles in neuem Licht. Noch am selben Tag verließen Escobar und seine Männer die Insel, um in See zu stechen und andere Länder zu suchen. Sie kehrten niemals zurück. So erfuhr Escobar auch nie, daß jenes Mädchen, mit der er in jener Nacht seine Angst und seine Freude geteilt hatte, neun Monate später einen Jungen zur Welt gebracht hatte.

      Ich bin es, Nemura, später dann auch Pèrito genannt, der kleine Entdecker, von dem anfangs niemand wußte, wer ihn gezeugt hatte. Ich selbst habe es

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