Hegels Gespenst. Markus Litz

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Hegels Gespenst - Markus Litz

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auf dem zugigen Platz vor der Markuskirche einem seltsamen Mann, dessen langes gelocktes Haar mir sogleich in die Augen stach. Und auch er verfolgte mich mit seinen Blicken. Er trug einen länglichen Holzkasten unter seinen linken Arm geklemmt, und er schaute mich so an, als wolle er jede meiner Bewegungen nachzeichnen.

      Zu dieser Zeit hatte ich bereits die halbe Welt gesehen, und auch das Elend erlebt, das sie uns zumutet: Am Anfang, in meinen ersten Lebensjahren, glich ich nämlich rein äußerlich meinem weltreisenden Vater und war deutlich heller als die anderen Kinder, beinahe weiß. Doch als meine Haut sich mit der Zeit immer dunkler tönte, gab meine stets traurige Mutter mich im Alter von drei Jahren in die Hände meiner Großmutter, die mich zehn Jahre lang wechselweise küßte und schlug. Vor allem die Schläge blieben mir in Erinnerung.

      Weil ich die Menschen liebte, die aus der Ferne kamen, folgte ich den weißen Männern, die über das Meer zu uns gefunden hatten. Sie lehrten mich ihre Sprache, und ebenso Lesen und Schreiben. Zehn Jahre lang fuhr ich mit ihnen auf See, entlang der afrikanischen Küste, dann nordwärts bis nach Portugal, wo ich sieben Jahre lang blieb, um in Lissabon die Manuskripte zu studieren, die von den Reisen des Alvise Cadamosto, Alvaro Fernandes´ und Pèro Escobars nach Afrika und in andere Weltgegenden handelten.

      So lernte ich vieles über das Leben jener Fremden, das doch insgeheim ein Teil meiner selbst war. Damals wußte ich nicht, wer mein Vater war. Aber der Drang, es in Erfahrung zu bringen, war so unbändig in mir, daß ich alles dafür auf mich nahm. Ich lebte dahin, ohne zu wissen, wofür ich lebte. Da träumte ich eines Tages, ich fände die Antwort auf all meine Fragen in einer mitten im Wasser erbauten Stadt voller schmerbäuchiger Kuppeln, durchzogen von Kanälen, die nach wunderbarer Fäulnis rochen.

      Also schloß ich mich also einer Reise von Gelehrten an, die im Frühjahr 1505 von Lissabon in See stachen, um über das Mittelmeer bis nach Venedig zu gelangen. Dort sollten wir eine Gruppe von alt und zahnlos gewordenen Übersetzern aus Konstantinopel treffen, die vor über fünfzig Jahren zahlreiche Manuskripte der Byzantiner während der Eroberung ihrer Stadt vor den Flammen und dem eifernden Zorn der Osmanen gerettet hatten.

      Das Meer war nicht schweigsam, während wir segelten. Es geriet außer sich und stürmte gewaltig, und ich fühlte mich manchmal wie jener Prophet, den der Zorn Gottes über Bord warf, so daß er beinahe untergegangen wäre, wenn er nicht Unterschlupf gefunden hätte im Bauch eines Wals.

      Als wir Venedig erreichten, erfuhren wir, daß das Schiff der Byzantiner vor der Küste von Split in die Hände von Seeräubern geraten, vollständig ausgeplündert und im Meer versenkt worden war. Das einzige, was von den räuberischen Piratenhorden einigermaßen unversehrt zurückgelassen wurde, war ein hinkender Schiffsjunge, der zwei Manuskripte gerettet hatte, indem er sich diese wie ein Korsett um die Taille gewickelt hatte.

      Es waren zwei Handschriften auf Pergament, die erste eine arabische Abschrift eines verlorenen aristotelischen Traktates über die Melancholie. Die zweite war eine aus dem vierzehnten Jahrhundert stammende Beschreibung des Reichs der Akan, das an der Goldküste von Westafrika liegt. Als ich dieses Manuskript las, gingen mir die Augen auf. Da hieß es, daß die Akan Wilde seien, die weder Schrift noch Religion besäßen. Sie liebten die Gewalt und versklavten alle, die nicht aus ihrem Stamme seien. Ihre Herrscher wären wahre Meister der Grausamkeit und sie vergötzten die Farbenspiele der Hölle. Um eines billigen Vorteils willen opferten sie selbst ihre eigenen Kinder und bestrichen mit deren Blut die Gesichter ihrer wagemutigsten Krieger.

      Es gab auch farbig gefaßte Bilder zu diesen Beschreibungen: Seltsamkeiten und Schreckensszenen. Eine nackte Schwarze auf einem Dromedar, vor ihr ein Kniender, der in seiner Linken ein Weihrauchfaß und in seiner Rechten einen aufgespannten Sonnenschirm hält. Auf einem anderen Bild war eine verschleierte weiße Frau zu sehen, die von einem jungen schwarzen Krieger umarmt wird. Ihr Blick verschwamm in Tränen, als hätte sie in einen Abgrund geschaut. Ein weiteres zeigte ein gewaltiges Krokodil, aus dessen klaffendem Maul ein halber Mensch mit vor Schreck geweiteten Augen hervorschaut. Über dem Krokodil die unbewegte Gestalt eines Mannes, in dem ich mich selbst wieder wahrnahm, jedoch als ein Weißer.

      Da wußte ich auf einmal, daß dieser und niemand anderer mein Vater sein müsse. Ein Wolkenfarbiger aus einem fernen Land. Doch er blieb gefangen in einem Bild. In den Augen jenes Weißen wie des Halbverschlungenen geriet ich in einen Zeitspalt. Meine Furcht und mein Zittern wurden zu Nichts. Ich fühlte mich auf einmal in einen Himmel der Gewißheit geschleudert.

      Und so erkannte ich mit einem Mal, daß mein einziger Ausweg es sei, in ein Bild zu gelangen und dieses niemals wieder zu verlassen. Ein echtes Bild, kein täuschendes. Ich suchte die Wahrheit, nicht den Traum. Keine halbherzigen Versuche im Blau. Meine Farbe war das Weiß, von dem alles ausgeht.

      Und jemand sprach zu mir, der mir erklärte, daß das Weiß in Wirklichkeit gar keine Farbe sei, sondern die Summe aller erdenklichen Farben, also ein herrliches Nichts. Was wäre dann das Schwarze, fragte ich diesen Jemand. Und jener erwiderte, daß Schwarz wiederum die Verleugnung aller Farben sei, deren reines Gegenteil.

      Es ist schwierig, in ein Bild zu gelangen, welches das Bild eines Meisters ist. Zuerst ist es notwendig, sich in die Gedanken des Meisters einzuschleichen, um darin zu dessen verborgenem Eigentum zu werden. Mit den Gedanken hat es seine eigene Bewandtnis. Sie sind irgendwo und nirgendwo in den Köpfen zuhause, im Gedächtnispalast, der jeden Winkel eines Kopfes mit seinen Zimmern und Fluren bewohnbar macht. In jenen Räumen ist alles sorgsam verborgen und zugleich auch offenbar.

      Der Mann mit dem Holzkasten und dem welligen Haar durchkreuzte meinen Sinn wie ein Tier, das es nicht gibt. Vielleicht ist er ja meine Erfindung, dachte ich mir, aber wenn er meine Erfindung ist, dann wird er zu mir sprechen, wenn ich ihn darum bitte.

      Und so kehrte ich meinen Gedanken den Rücken und gelangte wieder zurück zum Markusplatz, zog jenen Mann aus meinem Gedächtnis hervor und befestigte ihn an der Leine meiner Einbildung. Da zappelte er für eine Weile, schlug mit Federn und Fäusten um sich, flehte um die Gnade, fliehen zu dürfen. Doch ich ließ nicht mehr von ihm ab. Ich verkroch mich also in seine Gedanken, stieg bis unter seine Lider, wo sich zarte und wilde Gestalten tummelten: Ein Blaurackenflügel, drei wildgewordene Reiter auf ihrem Galopp ins Nirgendwo, das Rasenstück eines verwunschenen Gartens, eine Meerkatze mit fragenden Augen, betende Hände, ein Knabe mit zierlichen Fingern, das Bildnis der Mutter mit knotigem Hals, ein Schreiberling im Gehäuse, das Antlitz des Schmerzensmanns, und letztlich auch ein Gesicht, welches das meine sein könnte.

      Ich sah es an, und fand meinen Blick, den ich niemals sehen würde: in einer Ferne verloren, die es nimmermehr geben wird. So werde ich sein, wenn ich mit schwarzer Kreide gezeichnet bin. Gekräuseltes Haar, eine fliehende Stirn, der verlorene Blick über der gedrungenen Nase, unterhalb derer sich der Bart und ein Paar fleischige Lippen zuhause fühlen.

      Das sei mein Gesicht, befand jener Meister. Und ich betrachtete es lange, suchte in seinen Einzelheiten nach den Spuren meiner Herkunft. Sie ist jedoch niemals zu finden. Wer sie aufzuspüren oder nachzuzeichnen versucht, muß sich verlieren. In jedem Gesicht ist etwas anderes eingeschrieben, ein zweites Gesicht, das wie ein Phantom aus unsichtbarem Stoff darüber gewoben ist. Ein Netz von Linien, deren Sinn sich erst dann ergibt, wenn der Ursprung enträtselt wird.“

      Also sprach Pèrito Escobar, Sohn einer Namenlosen und des Pèro Escobar, des Sendboten von Heinrich dem Seefahrer, des Entdeckers der westafrikanischen Küste. Und er klopft mit Bedacht an die Schädeldecke, um sich aus dem Verlies der Gedanken herauszuheben. Sein Klopfen wird lauter, es ist kaum noch zu überhören. Will er doch endlich fortkommen von der Insel seiner Einbildung. Aber der Schädel lüftet sich nicht. Die Insel bleibt eine Insel im Nirgends. Eine Schädelstätte des Geistes.

      Es bleibt ein Gefängnis für alles, was sich in ihm verbirgt. Also muß dieser Schädel geöffnet werden wie eine Nuß, die man aufschlägt, um die verborgene Milch zu genießen.

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