Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz. Kathrin Lange

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Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz - Kathrin Lange

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Jemand muss es ins Regal gestellt haben. Ich habe allerdings keine Ahnung, wieso.«

      Jessa schaute in die Richtung, in die sie gedeutet hatte. »Können Sie mir zeigen, wo genau Sie es gefunden haben?«

      »Natürlich.« Ms Galloway kam hinter ihrem Schreibtisch hervor und marschierte mit kurzen, energischen Schritten den ehemaligen Hausflur entlang, dann in einen der hinteren Räume und dort in den hintersten Winkel. Eine junge Studentin, die an einem Tisch saß und einen dicken Wälzer vor sich liegen hatte, schaute kurz auf, kümmerte sich dann jedoch nicht weiter um sie.

      Das Regal, in dem Alice’ Buch gestanden hatte, gehörte zur Abteilung Enzyklopädien und Sammelwerke. Dem Alter der hier stehenden Lexika und Bildbände nach zu urteilen, wurden die Bücher ungefähr alle hundert Jahre einmal benutzt. Kein Wunder. In Zeiten von Internet und Wikipedia gab es vermutlich kaum etwas Nutzloseres als alte Nachschlagewerke. Ein Wunder, dass die Bibliothek die alten Schwarten noch nicht entsorgt hatte.

      »Da hat es gestanden«, erklärte Ms Galloway und deutete auf das oberste Brett eines Regals, auf dem sich eine zweibändige und offenbar ziemlich alte Sagensammlung befand. »Zwischen den beiden Sagenbänden. Es ist mir nur aufgefallen, weil es keine Signatur hat.«

      Jessa zog Alice’ Buch aus der Tasche. Die Schutzumschläge der beiden Bände hatten fast dieselbe Farbe wie dessen Einband. Es war kein Wunder, dass es dort so lange unentdeckt gestanden hatte, zumal die Sagen seit Jahren niemand mehr ausgeliehen hatte, wie Ms Galloway nun erklärte.

      »Und deine Schwester ist spurlos verschwunden? Hier in Haworth?« Die Bibliothekarin schauderte.

      Jessa nickte. »Könnten Sie mir einen Gefallen tun und nachschauen, ob Sie eine Alice Downton in Ihrem System haben?« Halb erwartete sie, einen längeren Vortrag über Datenschutz gehalten zu bekommen. Aber Ms Galloway schien selbst viel zu neugierig, um sich um solche nervigen Hindernisse zu scheren. Gut, dachte Jessa. Wenn diese Bibliothekarin das Rätsel um Alice’ Verschwinden so interessant fand, kam ihr das gerade recht.

      Ms Galloway marschierte zurück zu ihrem Schreibtisch und tippte eine Weile lang auf der Tastatur ihres Computers herum, der noch altertümlicher war als die in Children’s Retreat.

      »Hier«, sagte sie dann und deutete auf den Bildschirm. »Wir haben tatsächlich eine Alice Downton im System. Moment. Der letzte Eintrag für sie datiert vom 3. September 2015.«

      Das war nur einen Tag, bevor Alice sich zum letzten Mal bei ihr gemeldet hatte!

      Jessas Magen machte einen kleinen, flatterigen Satz. Sie hatte wirklich eine Spur von Alice entdeckt! »Was hat sie ausgeliehen?«, fragte sie ein bisschen atemlos.

      »Hm. Mal sehen. Das sind alles Bücher über oder von Branwell Brontë. Das war der jüngere Bruder der drei Brontë-Schwestern.«

      Der Maler, der das Bild auf Alice’ Buch gemalt hatte. Wieder einmal betrachtete Jessa das Cover. Sie fand diesen Branwell nicht besonders talentiert. Die Gesichter der drei Frauen waren flächig und nicht sehr fein ausgearbeitet, die Farben eintönig und irgendwie uninspiriert. »Könnte ich die Bücher, die Alice ausgeliehen hat, einsehen?«

      »Natürlich. Du musst dafür allerdings einen eigenen Ausweis beantragen.« Datenschutz war Ms Galloway zwar egal, aber mit den Formalitäten einer Ausleihe war sie dafür offenbar umso genauer.

      Jessa nahm es mit Humor und eine Viertelstunde später saß sie an dem Tisch, an dem eben noch die Studentin gesessen hatte, die aber mittlerweile gegangen war. Vor sich hatte sie drei alt aussehende Sachbücher, die sich allesamt mit diesem Branwell Brontë beschäftigten. »Dieses hier«, hatte Ms Galloway gesagt, »hat nach deiner Schwester niemand anderes mehr ausgeliehen.«

      Es war eine dicke, dunkelrot eingebundene Schwarte mit dem Titel Branwell Brontë – Maler, Schriftsteller, Lehrer. Das meiste darin war ziemlich langweiliges Zeug. Jessa blätterte es dennoch durch und überflog Lebensdaten, Forschungen zu Branwells Arbeit an einem Werk namens Angria und vielem mehr. An einem Artikel blieb ihr Blick hängen.

      Jemand hatte Unterstreichungen gemacht.

      Und diese Unterstreichungen hatten einen dunklen Türkiston.

      Wieder gab es in Jessas Magen dieses komische flatterige Gefühl. Sie schlug Sturmhöhe auf und verglich den Farbton der Unterstreichungen mit der Tinte, mit der Alice ihren Namen und ihre Adresse in das Buch geschrieben hatte.

      Sie stimmten überein.

      Ungefähr eine Stunde lang brauchte Jessa, um den Artikel zu lesen, für den Alice sich so sehr interessiert hatte, dass sie ihre Angewohnheit, besonders sorgsam mit Bibliotheksbüchern umzugehen, über den Haufen geworfen und ganze Passagen darin angestrichen hatte.

      In dem Artikel ging es um die Frage, warum Branwell im Alter von nicht mal dreißig Jahren den Verstand verloren hatte. Das Ganze war ungeheuer kompliziert und so schwer verständlich geschrieben, dass Jessa irgendwann ein Gähnen nicht mehr unterdrücken konnte. Für so langweiliges Zeug hatte Alice sich interessiert? Warum nur?

      Seufzend legte sie den Zeigefinger als Lesezeichen zwischen die Seiten und klappte das Buch zu. Danach starrte sie eine Weile lang grübelnd vor sich hin, bis Ms Galloway den Kopf zur Tür hereinsteckte und fragte: »Irgendwelche Erkenntnisse?«

      Jessa zuckte mit den Achseln. »Nur dass Alice sich offenbar brennend für diesen Branwell interessiert hat.«

      Da lächelte die Bibliothekarin. »Mir ist eben eine Idee gekommen.« Sie winkte Jessa zu sich heran.

      Jessa zögerte, doch dann stand sie auf und folgte Ms Galloway. Die führte sie zu einer Treppe ihm hinteren Teil des Gebäudes. Hier hatte man irgendwann einmal einen moderneren Anbau angefügt, denn als sie nun durch eine gläserne Tür gingen, befanden sie sich in einem Treppenhaus, das aussah wie das einer Behörde aus den Siebzigern. An der Treppe ließ Ms Galloway Jessa den Vortritt, dann führte sie sie einen mit Linoleum ausgelegten Gang entlang und bis zu einer Tür mit Milchglaseinsatz. Prof. Victor Addingham stand auf einem Schild daneben. Ms Galloway klopfte und wartete kaum auf das »Herein«, das folgte. Eilig stieß sie die Tür auf und stürmte in das Zimmer. Jessa folgte ihr.

      »Professor Addingham«, begann die Bibliothekarin. »Darf ich Sie einen kurzen Moment stören?«

      Der Mann, der hinter dem mit Papieren und Büchern übervollen Schreibtisch saß, war am Telefonieren. »Kann ich Sie später zurückrufen, Professor Taylor?«, fragte er in sein Handy. Sein Gesprächspartner antwortete etwas, er bedankte sich und legte dann auf. »Das haben Sie ja schon, Clarice«, sagte er mit einem Seufzen. Er schien um die fünfzig zu sein. Seine Haare waren an den Schläfen ergraut und so unordentlich, als hätte er sie sich gerade gerauft. Er trug eine Brille mit silbernem Drahtgestell, eine hellbraune Strickjacke über einem verknitterten Hemd und Jessa vermutete, dass unter dem Schreibtisch eine ausgebeulte Cordhose das Outfit eines waschechten Gelehrten komplettierte.

      Ms Galloway überhörte den Vorwurf in seiner Stimme. »Diese junge Dame hier braucht Ihre Hilfe.« Sie packte Jessa und schob sie ein Stück nach vorne, was nicht ganz einfach war, denn das Büro war winzig und vollgestopft. »Jessa ist hier, weil sie auf der Suche nach ihrer verschwundenen Schwester ist.«

      Während sie das sagte, hätte Jessa beinahe einen Stapel Bücher umgestoßen. Gerade noch konnte sie den windschiefen Turm davon abhalten, in sich zusammenzurutschen.

      Ein leises Ächzen entfuhr der Kehle des Mannes.

      »’tschuldigung«,

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