Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz. Kathrin Lange
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Читать онлайн книгу Wenn die Nebel flüstern, erwacht mein Herz - Kathrin Lange страница 19
»Ich dachte, Sie könnten sich vielleicht an irgendwas von damals erinnern«, warf Ms Galloway ein. »Immerhin arbeiten Sie schon seit dreißig Jahren hier!«
Da ließ sich Professor Addingham wieder auf seinen Stuhl sinken. Die Federn quietschten leise. »Hm … In der Tat erinnere ich mich daran, dass einmal jemand von der Polizei hier war und nach einer jungen Frau gefragt hat. Ist das wirklich schon fünf Jahre her? Du liebe Güte, wie die Zeit vergeht!«
»Was haben Sie der Polizei gesagt?«, fragte Jessa. Ein leichtes Kribbeln hatte sie erfasst. Kam sie jetzt einen Schritt weiter?
Offenbar nicht, denn Professor Addingham schüttelte bedauernd den Kopf. »Nichts. Denn ich habe diese junge Dame nie getroffen. Alles, was ich tun konnte, war, dem Polizeibeamten viel Glück bei der Suche zu wünschen.« Während er das sagte, blätterte er in dem Manuskriptstapel herum, an dem er gearbeitet hatte, als sie eingetreten waren. »Ich fürchte also, ich bin keine große Hilfe. Tut mir wirklich sehr leid … wie war noch mal dein Name … Jessica?«
»Jessa«, verbesserte sie automatisch. Das Kribbeln wurde ersetzt von einem Gefühl von Enttäuschung. »Danke trotzdem.«
»Hm. Gern geschehen.« Er war in Gedanken schon wieder bei seiner Arbeit. »Würdest du mich jetzt bitte entschuldigen? Ich muss das hier dringend fertig machen.«
»Natürlich.« Jessa sah Ms Galloway an.
Die wirkte nicht zufrieden, aber sie schien zu viel Respekt vor dem Professor zu haben, um ihn weiter zu nerven. »Komm«, sagte sie zu Jessa, dann bugsierte sie sie aus dem engen Büro. »Schade. Ich hätte mir gewünscht, dass er dir hätte helfen können.«
Jessa folgte ihr zu ihrem Arbeitsplatz zurück. »Tja«, murmelte sie. »Das war es dann wohl.«
»Vielleicht noch nicht«, sagte Ms Galloway. Mit der Spitze ihres Zeigefingers tippte sie sich gegen die Unterlippe. »Ich habe eine Tante, die seit Jahrzehnten in Haworth lebt. Sie ist zwar schon ein bisschen dement und wohnt im Altersheim, aber wenn sie klar ist, ist sie ein wandelndes Lexikon. Vielleicht kann sie sich an ein Mädchen erinnern, das vor fünf Jahren spurlos verschwand.« Ms Galloway sah auf die Uhr. »Ich habe um halb eins Mittagspause. Wenn du bis dahin warten kannst, könnten wir gemeinsam zu Elizabeth gehen.« Sie lächelte. »So heißt sie. Meine Tante Elizabeth.«
Jessa konnte sich zwar nur schwer vorstellen, dass das etwas bringen würde. Vermutlich war ein Besuch bei dieser Elizabeth nicht mehr als das Greifen nach einem Strohhalm, aber was hatte sie schließlich zu verlieren? Also beschloss sie, die Hilfe der Bibliothekarin anzunehmen, auch wenn diese ihr die vermutlich nur aus reiner Neugier und und Sensationslust anbot.
»Warum nicht?«, willigte sie ein.
Die Vormittagssonne stand so, dass sie sich in den Fenstern des Hauptflügels spiegelte und helle Reflexe auf die große Freitreppe des Haupteingangs warf, als Christopher daraus ins Freie trat. Aus Richtung Verwaltercottage konnte er Nell den Weg hierherauf entlangstapfen sehen und er beneidete sie fast ein bisschen. Während er wie jeden Morgen das Gefühl auseinanderzubrechen ignoriert und sich gezwungen hatte, eine frische Jeans, blank geputzte Schuhe und ein gestärktes Hemd anzuziehen, trug sie eine schlabberige Jeans und einen simplen Sweater und hatte ihre halblangen roten Haare nur nachlässig gekämmt. Es war offensichtlich, dass auch sie nicht besonders gut geschlafen hatte. Mit Sicherheit wusste sie mittlerweile von Jessas Auftauchen. Und vermutlich war sie rasend vor Wut darüber, dass er es ihr gestern nicht erzählt hatte.
Er hatte das absurde Bedürfnis, sich gegen ihr Donnerwetter zu schützen, und in einer völlig sinnlosen Geste stellte er erst den Kragen seiner Lederjacke auf und schloss dann den Reißverschluss halb.
»Hey!«, grüßte sie ihn im Tonfall einer Katze, der man auf den Schwanz getreten hatte.
»Hey.«
»Bist du in Ordnung?«, fragte sie.
In einem von vornherein vergeblichen Versuch, dem eigentlichen Thema auszuweichen, grinste er. »Mehr als du, offenbar. Hast du deine Bürste verbummelt?«
»Echt jetzt, Christopher?«, fauchte sie und raufte sich die ohnehin schon wirren Haare.
Er nickte. »Ja. Das macht es definitiv besser.«
»Ach, halt einfach die Klappe!«, schrie sie. »Dir ist schon klar, dass Dad und Henry mir von Jessa erzählt haben?«
»Und?«, fragte er zurück. Ihm fiel einfach nichts Besseres ein.
»Ich will, dass du diese Waffen rausrückst!«
Langsam schüttelte er den Kopf. »Sorry. Vergiss es.« Er drängte sich an ihr vorbei und ging zu den Stallungen, um seine Enduro herauszuholen.
»Wo willst du hin?«, entfuhr es Nell.
Er bockte die Maschine auf, um das Stalltor schließen zu können. Er wollte weg aus Nells Gegenwart. Es nervte, wenn sie sich solche Sorgen um ihn machte. Aber er unterdrückte den Impuls, ihr nochmals zu versichern, dass er okay war.
Er war alles andere als das. Und Nell war klug genug, das zu wissen. Vor allem kannte sie ihn viel zu gut.
»Wo – willst – du – hin?«, wiederholte sie ihre Frage mit Nachdruck.
Er seufzte theatralisch. »Dienstag?«, sagte er in einem fragenden Ton.
Nell wedelte ärgerlich mit beiden Händen. »Ich weiß, dass Dienstag ist! Was ich sagen will, ist: Du kannst heute nicht zu Elizabeth fahren!«
Er war schon drauf und dran gewesen, ein Bein über den Bock zu schwingen. Jetzt wandte er sich noch einmal zu ihr um. »Ach? Und warum nicht?«
»Weil die Gefahr besteht, dass du im Dorf dieser Jessa begegnest?« Sie schien fassungslos, dass sie ihm das überhaupt sagen musste.
»Genau deswegen ist dein Bruder da draußen und passt auf, wo Jessa sich rumtreibt.«
»Henry ist …«
»Henry ist bei Jessa!«, fiel Christopher Nell ins Wort. »Und er warnt mich, wenn die Gefahr besteht, ihr noch mal zu begegnen.« Er schwang sich auf das Motorrad. »Auch wenn es, genau genommen, keinen Grund dafür gibt, dass ich ihr aus dem Weg gehe.«
»Jaja«, grummelte sie. »Du hast alles im Griff, wie immer.«
Nichts hatte er im Griff, aber er würde den Teufel tun und mit ihr darüber diskutieren.
»Es gefällt mir nicht, wie du das Schicksal herausforderst, wenn du jetzt in dieses Altersheim fährst!«, sagte sie.
Er seufzte erneut, diesmal übertrieben resigniert, und er sah den Ärger hinter der Sorge in ihren Augen aufblitzen. Sie hasste es, wenn er so tat, als würde er mit einem kleinen Kind reden. Genau das war der Grund, warum er es getan hatte: um sie abzulenken.