Deutschstunde. Siegfried Lenz

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Deutschstunde - Siegfried Lenz

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ein Stück in Richtung zur Husumer Chaussee, die nach Heide und Hamburg weiterführt, bog beim Torfteich ab und fuhr, jetzt mit seitlichem Wind, an den maulwurfsgrauen Gräben entlang zum Deich, wie immer an der flügellosen Mühle vorbei, saß hinter der Holzbrücke ab und schob das Fahrrad schräg den wulstigen Deich hinauf, gewann dort oben, vor der Leere des Horizonts, eine unerwartete, den Raum betreffende Bedeutung, schwang sich abermals in den Sattel und segelte nun, eine einsame Tjalk, mit prallem, geblähtem und fast explodierendem Umhang auf dem Kamm des Deiches entlang, nach Bleekenwarf, wie immer nach Bleekenwarf. Nie vergaß er seinen Auftrag. Wenn der Herbstwind Korvetten über den Himmel von Schleswig-Holstein trieb: mein Vater war unterwegs. Im scheckigen Frühjahr, bei Regen, an trüben Sonntagen, morgens und abends, in Krieg und Frieden schwang er sich auf sein Fahrrad und strampelte in die Sackgasse seiner Mission, die ihn immer nur nach Bleekenwarf führte von Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen.

      Dies Bild, wie gesagt, diese mühselige Fahrt, zu der der Außenposten der Landpolizei Rugbüll – der nördlichste Polizeiposten Deutschlands – andauernd aufbrach, gelang meiner Erinnerung sofort, und um Korbjuhn zu dienen, dachte ich mich noch näher heran, band mir einen Schal um, ließ mich auf den Gepäckträger des Dienstfahrrades setzen und fuhr einfach mit nach Bleekenwarf, wie so oft, hielt mich, wie so oft, mit klammen Fingern am Koppel meines Vaters fest, während der Gepäckträger mir mit seinem harten Gestänge rote Flecken in die Oberschenkel kniff. Ich fuhr mit und sah uns gleichzeitig, gegen den Hintergrund unentbehrlicher Abendwolken, gemeinsam auf dem Deich entlangfahren, ich spürte die Windstöße frei und scharf von der Einöde des Watts und sah uns beide von fern schwanken unter denselben Windstößen, und ich hörte meinen Vater stöhnen vor Anstrengung, nicht verzweifelt oder zornig über den Wind, sondern nur ordnungsgemäß stöhnen und, wie mir schien, mit heimlicher Genugtuung. Am Watt, am schwarzen winterlichen Meer entlang, fuhren wir nach Bleekenwarf, das ich kannte wie kein Anwesen außer der zerfallenden Mühle und unserm Haus; ich sah es daliegen auf schmutzigem Erdsockel, von Erlen flankiert, deren Kronen scharf gestriegelt und nach Osten hingebogen waren, ich versetzte mich vor das schwingende Holztor, öffnete es, blickte forschend auf Wohnhaus, Stall, Schuppen und das Atelier, aus dem mir, wie so oft, Max Ludwig Nansen zuwinkte, listig und vorsorglich drohend.

      Sie hatten ihm damals verboten zu malen, und mein Vater, der Polizeiposten Rugbüll, hatte die Einhaltung des Malverbots zu überwachen durch alle Tages- und Jahreszeiten; er hatte, um das auch zu erwähnen, jede Erfahrung und Entstehung eines Bildes zu unterbinden, alle unerwünschten Behauptungen des Lichts, überhaupt polizeilich dafür zu sorgen, daß in Bleekenwarf nicht mehr gemalt wurde. Mein Vater und Max Ludwig Nansen kannten sich lange, ich meine: seit ihrer Kindheit, und da sie beide aus Glüserup stammten, wußten sie, was sie voneinander zu erwarten hatten, und vielleicht auch, was ihnen bevorstand und was einer dem anderen bereiten würde bei längerer Dauer der Lage.

      Weniges liegt so wohlverwahrt im Tresor meiner Erinnerung wie die Begegnungen zwischen meinem Vater und Max Ludwig Nansen; deshalb schlug ich zuversichtlich mein Heft auf, legte meinen Taschenspiegel daneben und suchte die Fahrten meines Vaters nach Bleekenwarf zu beschreiben, nein, nicht allein die Fahrten, sondern auch all die Finten und Fallen, die er sich ausdachte für Nansen, die schlichten und komplizierten Listen, Pläne, die seinem langsamen Argwohn einfielen, Tricks, Täuschungen und, weil Doktor Korbjuhn es sich gewünscht hatte, schließlich auch die Freuden, die bei der Ausübung der Pflicht wohl abfielen. Es gelang nicht. Es glückte nicht. Immer wieder setzte ich an, schickte meinen Vater den Deich hinab, mit und ohne Umhang, bei Wind und bei Windstille, mittwochs und sonnabends: es half nicht. Da herrschte zuviel Unruhe, zuviel Bewegung und liederliche Fülle; noch bevor er Bleekenwarf erreichte, verlor ich ihn aus den Augen, weil es einen Aufruhr von Möwen gab, weil ein alter Torfkahn mit seiner Fracht kenterte oder ein Fallschirm über dem Watt schwebte.

      Vor allem aber lief über den Vordergrund eine kleine, unternehmungslustige Flamme, die alle erinnerten Bilder und Begebenheiten versehrte, sie schmelzen und auflodern ließ, und, wenn die Flamme sie nicht erwischte, krümmte oder verkohlte oder, was auch vorkam, sie unter dem Zittern ihrer Glut verbarg.

      So versuchte ich’s von der anderen Seite, dachte mich nach Bleekenwarf, um hier meinen Anfang zu finden, und grauäugig, listig bot sich Max Ludwig Nansen an, mir beim Trichtern der Erinnerung zu helfen: er lenkte meinen Blick auf sich, trat mir zuliebe aus seinem Atelier, tappte durch den Sommergarten zu den oft gemalten Zinnien, stieg langsam den Deich hinauf, wobei sich ein schweres, beleidigtes Gelb über den Himmel legte, das von dunklem Blau durchzuckt wurde, hob ein Fernglas und blickte nur eine Sekunde in Richtung Rugbüll, das genügte, um plötzlich ins Haus zu stürzen und sich im Innern zu verstecken. Fast hatte ich einen Anfang gefunden, als das Fenster aufgestoßen wurde und Ditte, Max Ludwig Nansens Frau, mir, wie so oft, ein Stück Streuselkuchen herausreichte. Da bot sich einfach zuviel an; ich hörte eine Schulklasse in Bleekenwarf singen; ich sah wieder eine kleine Flamme, ich hörte die Geräusche, die mein Vater bei nächtlichem Aufbruch verursachte. Jutta und Jobst, die fremden Kinder, überraschten mich im Schilf. Jemand warf Farben in einen Tümpel, der in dramatischem Orange aufleuchtete. Ein Minister sprach in Bleekenwarf. Mein Vater salutierte. Große Autos mit fremdem Nummernschild hielten in Bleekenwarf. Mein Vater salutierte. Ich träumte in der zerfallenden Mühle, im Versteck, wo die Bilder lagen: mein Vater führte eine Flamme an der Leine, löste das Halsband und befahl der Flamme: »Such!«

      Immer mehr verschränkte, überschnitt, verwirrte sich alles, bis mich auf einmal Korbjuhns warnender Blick traf; da reinigte ich, sozusagen, in gesammelter Anstrengung die von Gräben durchschnittene Ebene meiner Erinnerung, schüttelte die Nebenerscheinungen ab, um alles unverdeckt und leicht abbildbar vor mir zu haben, besonders meinen Vater und die Freuden der Pflicht. Ich erreichte es auch, hatte gerade alle entscheidenden Personen zu einer Paradeformation unter dem Deich aufgestellt, wollte sie auch schon vor mir defilieren lassen, als Ole Plötz, mein Nebenmann, aufschrie und sich in erfolgreichen Krämpfen aus der Bank fallen ließ. Der Schrei kappte alle Erinnerung, ein Anfang gelang mir nicht mehr, ich gab auf, und als Doktor Korbjuhn die Hefte einsammelte, gab ich ein leeres Heft ab.

      Julius Korbjuhn konnte meine Schwierigkeiten nicht einsehen, glaubte mir nicht die Qual des Beginnens, konnte sich einfach nicht vorstellen, daß der Anker der Erinnerung nirgendwo faßte, die Kette straffte, sondern nur rasselnd und polternd, bestenfalls Schlamm aufwirbelnd über den tiefen Grund zog, so daß keine Ruhe eintrat, kein Stillstand, der nötig ist, um ein Netz über Vergangenes zu werfen.

      Nachdem also dieser Deutschlehrer erstaunt mein Heft durchgeblättert hatte, rief er mich auf, betrachtete mich einerseits leicht angewidert, andererseits mit redlichen Bedenken, forderte eine Erklärung von mir und sah sich nicht in der Lage, mit dieser Erklärung zufrieden zu sein. Er bezweifelte den guten Willen sowohl meiner Erinnerung als auch meiner Phantasie, bestritt mir die Not des Anfangs, indem er nicht mehr sagte als: Du siehst nicht so aus, Siggi Jepsen, und behauptete mehrmals, daß die leeren Seiten gegen ihn gerichtet seien. Statt mir zu glauben, witterte er Widerstand, Aufsässigkeit und so weiter, und da für solche Lagen der Direktor zuständig ist, führte Korbjuhn mich nach der Deutschstunde, die mir nichts brachte als den Schmerz über eine tolle, verwackelte, jedenfalls unknüpfbare Erinnerung, in das blaue Direktionsgebäude hinüber, wo im ersten Stock, gleich neben der Treppe, das Zimmer des Direktors liegt.

      Direktor Himpel, wie immer in Windjacke und Knickerbocker, war von etwa zweiunddreißig Psychologen umgeben, die sich geradezu fanatisch interessiert zeigten an den Problemen jugendlicher Krimineller. Auf seinem Schreibtisch stand eine blaue Kaffeekanne, lagen fleckige Seiten von Notenpapier, einige davon bedeckt mit seinen hastigen, landschaftlich engagierten Kompositionen, knappe Lieder, in denen die Elbe vorkam, meerfeuchter Wind, gebeugter, aber zäher Strandhafer, leuchtender Möwenflug, aber auch flatternde Kopftücher sowie der dringende Ruf des Nebelhorns: unser Inselchor ist dazu ausersehen, all diese Lieder aus der Taufe zu heben.

      Die Psychologen verstummten, als wir das Zimmer betraten, hörten zu, was Doktor Korbjuhn dem Direktor zu melden hatte. Die Meldung kam leise, doch ich konnte hören, daß da abermals von Widerstand die Rede war und von Aufsässigkeit,

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