Psychodynamik der Kindesmisshandlung. Tamara Brendel
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Die Forschungssituation, in Form von Zahlen und Fakten, findet sich in Kapitel 3.4 wieder und zeigt u. a. Erhebungen und Ergebnisse aus Studien zu Kindesmisshandlung und Missbrauchsfällen, sowie zur Transmission von Gewalterfahrungen. Die Fallzahlen durch die derzeitige Corona-Pandemie können in diesem Band nicht wiedergegeben werden, da es zum jetzigen Zeitpunkt im Jahr 2020 nur stichpunkthaltige bzw. singuläre Schätzungen zu Fallzahlen gibt. Diese Schätzungen stellen jedoch keine verlässliche Erhebung dar. In Kapitel 4 wird auf die Relevanz bzw. die Bedeutung des umfassenden Wissens über Kindesmisshandlung für das Handeln im Allgemein Sozialen Dienst (ASD) im Jugendamt eingegangen. Dabei werden die Gefahrenabschätzung mithilfe sozialpädagogischer Diagnostik und Fallverstehen in Kapitel 4.1 sowie die Möglichkeiten und Grenzen im Umgang mit misshandelnden Eltern in Kapitel 4.2 beschrieben. Zum Schluss werden die Kooperation und die Supervision der professionellen Fachkräfte und deren Wichtigkeit erläutert. Im Schlusswort werden alle wesentlichen Zusammenhänge der gesamten Thematik noch einmal hergestellt.
Es soll noch darauf hingewiesen werden, dass in dem vorliegenden Buch der Begriff „Kind“ auch gleichzeitig „Jugendliche mit Misshandlungserfahrungen“ einschließt und mit „Eltern“ alle Personensorgeberechtigten oder andere Bezugspersonen (Lebensgefährten oder Stiefeltern) für das Kind gemeint sind.
2 Was ist eine Kindeswohlgefährdung?
Bei dem Versuch, eine Kindeswohlgefährdung (KWG) genau zu definieren, wird es schwierig, da es sich bei dem Wort „Kindeswohl“ um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt. Die gesetzliche Definition zur Kindeswohlgefährdung liegt im BGB § 1666 wie folgt vor:
„Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind.“
Gesetzlich gesehen liegt eine Kindeswohlgefährdung also dann vor, wenn Eltern mit ihrem Verhalten im Widerspruch zu den körperlichen, geistigen und seelischen Bedürfnissen ihres Kindes stehen und dabei mit hoher Wahrscheinlichkeit eine erhebliche Beeinträchtigung für das Wohl des Kindes besteht (zit. n. Meysen, 2012, 23). Demnach ist das Wohl des Kindes dann gefährdet, wenn seine elementaren Bedürfnisse u. a. nach Liebe und Geborgenheit, angemessener Versorgung, Unterstützung, Unversehrtheit, Kontinuität in den Beziehungen, Möglichkeiten, sich zu binden, und Bildung (Schulbesuch) nicht berücksichtigt werden. Dies ist auch der Fall, wenn die Familie nicht in der Lage ist, das Kind zu einer gemeinschaftsfähigen und eigenverantwortlichen Persönlichkeit zu erziehen, oder aber die Rechte des Kindes nach dem BGB und der UN-Kinderrechtskonvention missachtet (vgl. Alle, 2012, 13). In der UN-Kinderrechtskonvention ist mit dem Übereinkommen über die Rechte des Kindes der Begriff „Kindeswohl“ weitgehend geregelt.
Im BGB § 1631 Abs. 2 wird festgehalten:
„Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.“
Im Grundgesetz Artikel 6 Abs. 2 wird das Elternrecht, aber auch die Staatsüberwachung der Erziehung des Kindes deutlich:
„Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft.“
Im Fall einer akuten Gefahrenmeldung greift § 8a im SGBVIII (Kinder- und Jugendhilfegesetz). Dieser Paragraf wurde 2005 als Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung eingeführt.
Der § 8a SGBVII stellt eine Leitlinie bzw. einen Fahrplan für Fachkräfte im Jugendamt im Umgang mit drohender oder akuter Kindeswohlgefährdung dar. Zusätzlich wurde 2012 das Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz, kurz KKG, in Kraft gesetzt. Das KKG wirkt unterstützend u. a. bei der Umsetzung der staatlichen Mitverantwortung, bei Netzwerkstrukturen im Kinderschutz und bei der Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger bei KWG.
2.1 Welche Definitionen und Formen der Kindesmisshandlung gibt es?
Kindesmisshandlung kann wie folgt definiert werden:
„Eine Kindesmisshandlung liegt dann vor, wenn das Kind von seinen Eltern, zu denen es bei Gefahr und Angst schutzsuchend fliehen muß, allein gelassen oder überwältigt wird, so daß es sie als Schutzobjekt verliert und Ohnmachtsgefühlen und Todesängsten ausgeliefert ist […], wenn es mit seinen elementaren Bedürfnissen und Fähigkeiten überhaupt nicht wahrgenommen wird.“ (Nienstedt/ Westermann, 2007, 23).
Es gibt verschiedene Formen der Misshandlung, wie die psychische und physische Gewalt, die Vernachlässigung und den sexuellen Missbrauch an Kindern. In einigen Büchern wird auch das Münch-hausen-by-proxy-Syndrom (MSBP) als eine weitere Form von Kindesmisshandlung anerkannt und benannt. Auffallend ist, dass das Shaken-baby-Syndrom (SBS) in der Literatur wenig bis gar nicht als separat zu betrachtende Misshandlungsform beschrieben wird. Nicht so bei Kindler. Er listet das Schütteltrauma klar als eine eigenständige Form von Kindesmisshandlung auf (vgl. Kindler, 2006, 8-1). Eventuell liegt es daran, dass das Schütteltrauma unter die körperliche Misshandlung fällt und hier seine Beschreibung und Bedeutung wiederfindet. Es sollte allerdings als gesonderte Misshandlungsform betrachtet werden, da es sich hierbei um eine besonders gefährliche und schwerwiegende Art der Misshandlung handelt. Sie geht in bis zu 30 % der Fälle tödlich aus (vgl. Kindler, 2006, 8-1f.). Im Folgenden finden sich die Definitionen zu den einzelnen Formen von Kindesmisshandlung.
Psychische Misshandlung:
„Unter psychischer Misshandlung versteht man alle Handlungen oder Unterlassungen von Eltern oder Betreuungspersonen, die Kinder ängstigen, überfordern, ihnen das Gefühl der Wertlosigkeit vermitteln. “ (Engfer, 2016, 7)
Das bedeutet u. a. die Isolierung des Kindes von anderen Menschen (Freunden), das Ausnutzen oder Zwingen des Kindes zu sittenwidrigen oder gar zu selbstzerstörerischen Handlungen, das Terrorisieren eines Kindes mit wiederholten Drohungen, die Konfrontation mit Verlusterfahrungen, das Verweigern von emotionaler Zuwendung, Anfeindungen, das Herabsetzen, die Ablehnung oder Demütigung oder das ständige Kritisieren des Kindes (vgl. Kindler, 2006, 4-1). Aber auch die Partnergewalt innerhalb der Familie zählt zu psychischer Kindesmisshandlung (vgl. Cierpka/Cierpka, 2012, 313).
Physische Misshandlung:
„Unter körperlicher Misshandlung versteht man Schläge oder andere gewaltsame Handlungen (Stöße, Schütteln, Verbrennungen, Stiche usw.), die beim Kind zu Verletzungen führen können.“ (Engfer, 2016, 9).
Dazu zählen u. a. Handlungen, die bei dem Kind Ekel und Schmerzen auslösen, beispielsweise