Und dann noch die Liebe. Alexander Oetker
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Читать онлайн книгу Und dann noch die Liebe - Alexander Oetker страница 6
Die Kellnerin unterbricht uns, indem sie den Rotwein bringt und das Jarret. Die riesige Haxe dampft auf dem Teller, goldbraun ist sie gebacken, genau wie die Pommes frites daneben. Es sieht toll aus und riecht so gut, es ist genau das, was ich an diesem Tag brauche, an dem ich mich gerade mal dreieinhalb Kilometer bewegt habe: den Weg in Paris zur Gare du Nord, vom Bahnhof in Brüssel zum Taxi und dann immer wieder die Treppe im Ratsgebäude rauf und runter.
»Guten Appetit«, murmele ich hungrig und reiße mir das erste Stück Fleisch aus der Haxe. Die Senfsauce ist süßlich-herb, die Pommes sind kross, das Fleisch rot und saftig. Unglaublich, das kriegen so nicht mal die Deutschen hin.
Ich antworte auf Alains fünf Minuten zurückliegende Frage kauend und mit glücklich verklärtem Gesichtsausdruck: »Mir geht’s gut. Ich hab richtig gut zu tun. Morgen wieder zurück nach Berlin in die Redaktion, da bin ich dann den Rest der Woche. Die buchen mich die ganze Zeit, weil ich einfach immer ans Telefon gehe. Und dann fliege ich am Sonntag nach Paris, nächste Woche bin ich dort im Sender. Vielleicht geht ja auch noch was mit Breaking News nächste Woche.«
Terroranschlag. Naturkatastrophe. Regierungskrise. Es ist unglaublich in diesen Monaten. Immer wieder klingelt mein Handy, immer ist es eine der Redaktionen, für die ich arbeite, es ist ein Wettlauf geworden. Sie wissen, dass ich innerhalb von 20 Minuten am Flughafen bin und abfliege. Und erst danach frage, was überhaupt passiert ist.
Natürlich will ich nicht, dass etwas Schlimmes passiert. Aber wenn etwas Schlimmes passiert, heißt das: Ich darf dabei sein. Ich muss nicht zu Hause sein oder in der Redaktion. Ich bleibe in Bewegung.
»Und wie geht’s dir?«, beharrt Alain. »Privat, meine ich.«
Ich schaue auf meinen Teller, ärgere mich über sein Insistieren. Dann spüre ich, wie es in meiner Hose surrt. »Warte kurz«, murmele ich und greife zu meinem iPhone. »Match«, steht da in der Push-Nachricht von Tinder. Dann schon das Mailzeichen: »Neue Nachricht.« Ich öffne die Anzeige. Ihr Foto erscheint. Das griechische Mädchen.
Sie hat mich angeklickt und nach rechts weggewischt. Match. Treffer. Ja.
Sie schreibt auf Englisch:
»Hallo, Fremder. Verrückter Moment da vorhin. Noch verrückter, Dich hier wiederzusehen. Wollen wir uns später auf einen Drink treffen? Best, Agápi.«
Agápi.
Ich werde rot, sehe deshalb lieber nicht zu Alain auf und brauche keine Minute, um meine Antwort hinzutippen. Frauen warten lassen ist von vorgestern. Von vor Tinder.
»Hallo Agápi. Das wäre großartig. Wie lange wird die Sitzung gehen?«
Ein Gruß, absenden. Das Angenehme mit dem Nützlichen verbunden. Love and News.
Alain sieht mich unverwandt an.
»Mir … mir geht’s ganz gut. Viel zu tun. Und mit Kristina ist es ja schon ’ne Weile aus oder dieses On-off-Ding, du weißt schon. Deshalb bin ich … na ja, recht umtriebig. Aber ich bin auch fast nie zu Hause. Wie läuft es mit Sam?«
Wir nehmen beide von dem Rotwein, ein samtweicher Piemonteser aus Alba. Er lächelt.
»Es ist alles sehr schön. Sie arbeitet ein bisschen zu viel. Aber wenn wir uns am Wochenende sehen, dann nehmen wir uns Zeit. Es ist toll.«
Sie haben sich bereits im Studium kennengelernt. Seitdem sind sie zusammen und dennoch folgen sie immer der Arbeit, jeder für sich. Doch auch die dauernde Entfernung hat sie nicht auseinandergebracht. Ich fand Sam immer wahnsinnig heiß. Sie sehen sich jedes Wochenende, obwohl sie diese Fernbeziehung führen. Er fährt mit der Bahn nach Luxemburg. Jeden Donnerstagabend. Es klingt anstrengend. Ich bin so was von neidisch. Auf diese Planbarkeit. Und Verlässlichkeit. Auf die Liebe.
Mein Handy surrt und verscheucht diese Gedanken. Jetzt bin ich dran. Sie antwortet.
»Es dauert noch. Ich melde mich.«
Sekunden darauf surrt Alains Blackberry.
»Merde, wir müssen los. Sitzung ist aus. Ohne Ergebnis vertagt. Sondersitzung nächste Woche. Los, wir gehen.«
Wir lassen die halbe Jarret stehen, die mittlerweile traurigen Pommes, die Senfsauce, den Rotwein für 45 Euro die Flasche. Es ist 21:42 Uhr.
Alle Experten haben sich mit dem Sitzungsende verschätzt. Davide. Alain. Der EU-Kommissar. Agápi. Ich.
Chambre 212
2015
Sie hatte leise an meine Tür geklopft, vor zwei Stunden. Jetzt ist es 3:30 Uhr, und wir liegen ineinander verkeilt auf meinem Bett. Wir küssen uns, erst zaghaft wie zwei Teenager, irgendwann ziehen ihre Zähne an meiner Lippe, locken mich. Ihre Lippen sind weich und warm und voll, ich öffne die Augen immer wieder, weil ich sie sehen will, sehen muss. Ihre weiße Bluse ist weit aufgeknöpft, nur ein Knopf ist noch geschlossen, ganz unten. Sie trägt weiße Spitzenwäsche, die teuer aussieht. Ihre Haut schimmert, ich sehe den Ansatz ihrer Brüste. Noch hat sie ihren BH an. Wir lassen es langsam angehen. Ich hoffe, sie sieht mich nicht so prüfend an wie ich sie.
Die griechische Sonne hat ihren Teint geschaffen. Ich mag ihre Augen, je näher ich ihr komme, desto mehr mag ich sie. Ich selbst bin vorhin ins Bad gegangen, einfach so, ohne Erklärung, weil mir nichts einfiel. Ich zog mir dort mein Hemd aus, ich wollte nicht, dass sie mich dabei sieht.
Sie hatte mir geschrieben, noch bevor ich im Ratsgebäude angekommen war:
»Hi. Ich bin zu erschöpft, um noch auszugehen. Wollen wir uns bei Dir treffen? Bei mir geht nicht. Es ist das Delegationshotel.«
Ich antwortete sofort:
»Renaissance Hotel, Chambre 212. À bientôt.«
Ich hatte noch zwei Aufsager für die verschiedenen Sendungen produziert, etwas über »weitreichende Differenzen« erzählt, die man »auf einer Sonderkrisensitzung« in zwei Wochen gesondert besprechen würde, eventuell würden sich auch die »Staats- und Regierungschefs noch mal dazu treffen müssen«, und am Schluss hatte ich das schöne leere Wort »Chefsache« benutzt. Pointe. Abgang. Feierabend.
An der Bar im Café d’Autriche gab es noch bis Mitternacht Jupiler-Bier, dem ich zusammen mit der sehr hübschen Kollegin vom ORF und ein paar alten Schreiberlingen von Neuer Zürcher Zeitung und St. Galler Tagblatt ordentlich zugesprochen hatte. Dass Bier im Ratsgebäude beinahe billiger ist als Espresso, ließe wohl auch viel Raum für Journalistenpsychogramme.
Ich nahm ein Taxi ins Hotel. Ich spürte mein Herz, es schlug mir bis zum Hals, ich legte den Kopf gegen die regennasse Scheibe und trommelte auf den Ledersitz. Warum war ich aufgeregt? Sicher nur der lange Tag, die Reise aus Paris, Hasten in den Rat, Hasten ins Resto, Hasten ins Hotel. Ein heißer Tag. Der Taxifahrer sprach nicht, was für ein toller Kerl, er fuhr einfach die fünf Minuten bis zur Place du Luxembourg durch dunkle