Die esoterische Botschaft der Märchen. Manfred Ehmer

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Die esoterische Botschaft der Märchen - Manfred Ehmer Edition Theophanie

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zutraulicher. Sobald das Mädchen das Horn auf der Stirn berührt, lähmt es jeden Widerstand des Einhorns. Die Jäger können es jetzt ergreifen und zum König bringen. So wie das Einhorn brachte auch Christus sich zum Opfer dar und pflanzte das Horn der Erlösung für uns, vermittelt durch die Gottesmutter, die unbefleckte und reine Jungfrau Maria.“16

      So steht das Einhorn auch in Bezug zur Großen Muttergöttin, die einen Archetyp spiritueller Weiblichkeit bildet und in der Jungfrau Maria nur eine ihrer zahlreichen Ausdrucksformen findet. Im Mittelalter galt die mystische Einhornjagd als ein Symbol für spirituelle Suche, ähnlich der Suche nach dem Heiligen Gral oder dem alchemistischen Stein der Weisen. Bei so vieler und tiefgründiger Symbolik steht die Frage, ob es denn Einhörner jemals „wirklich“ gegeben habe, als unbedeutend im Hintergrund. Bei einem esoterischen Symbol zählt nie die historische Realität. Zwar gibt es seit der späten Antike immer wieder Berichte von Augenzeugen, die Einhörner „gesehen“ haben wollen, etwa der von dem Griechen Megasthenes, der im 3. Jh. v. Chr. im Auftrag von Seleukos nach Indien – dem klassischen Land aller Wunder und Fabeln – gereist sein soll, wo er das meist mit „Einhorn“ übersetzte Tier Kartazoon gesehen haben will. Schon 100 Jahre vor ihm hatte sein Landsmann Ktesias Ähnliches berichtet, und Cäsar lässt in seinem „Gallischen Krieg“ ein dem Einhorn täuschend ähnliches Wesen in den Tiefen des Hercynisches Waldes umher springen.

      Aber wir brauchen die Frage nach der historischen Realität des Einhorns nicht zu entscheiden. Wir halten es mit dem Dichter Rainer Maria Rilke eher für das „Tier, das es nicht giebt“, nicht gibt im objektiv-wissenschaftlichen Sinne, wohl aber als innere seelische und spirituelle Wirklichkeit; und es gibt kaum ein esoterisches Symbol, das machtvoller gewesen wäre und tiefere Spuren in der Kulturgeschichte des Morgen- und Abendlandes hinterlassen hätte, als das des Einhorns. Deshalb möge hier aus Rilkes SONETTE AN ORPHEUS (1922) jenes eine zitiert werden, das die Symbolgestalt des Fabeltiers in aller Pracht erstehen lässt – die Liebeserklärung eines spirituell Suchenden an Einhörner:

       O dieses ist das Tier, das es nicht giebt,

       Sie wusstens nicht und haben jeden Falls

       – sein Wandeln, seine Haltung, seinen Hals

       bis in des stillen Blickes Licht – geliebt.

       Zwar war es nicht. Doch weil sie's liebten, ward

       ein reines Tier. Sie ließen immer Raum.

       Und in dem Raume, klar und ausgespart,

       erhob es leicht sein Haupt und brauchte kaum

       zu sein. Sie nährten es mit keinem Korn,

       nur immer mit der Möglichkeit, es sei.

       Und die gab solche Stärke an das Tier,

       dass es aus sich ein Stirnhorn trieb. Ein Horn.

       Zu einer Jungfrau kam es weiß herbei –

       und war im Silber-Spiegel und in ihr.17

       Der Drache

      In zahlreichen Märchen, Mythen, Sagen und Heldenlegenden wird immer wieder von Drachenkämpfen berichtet, die der Held zu bestehen hat, ein Kampf des Lichts gegen abgründige Mächte der Finsternis. Solche Ungeheuerkämpfe sind in verschiedenen Versionen überliefert, mal der Kampf eines Berittenen mit Helm und Lanze oder Schwert gegen den Lindwurm, wie beispielsweise beim heiligen Georg, mal der Kampf zweier Tiere, in den der Held eingreift, wie etwa in der Heinrichsage oder bei Dietrich von Bern, dann wieder die Besiegung des Ungeheuers durch List wie in der Sage von Beowulf und Grendel. „Der Kampf mit dem Drachen“, schreibt der Märchenforscher Max Lüthi, „ein Lieblingsmotiv des europäischen Märchens, erinnert zunächst an den Kampf des Menschen mit wirklichen Untieren, ein Geschehen, das die Phantasie früherer Zeiten mit großer Gewalt beschäftigt haben muss. Gerade deshalb wird der Kampf mit dem Untier zum Symbol für den Kampf mit der feindlichen Umwelt, mit dem Bösen außer uns und in uns, des Willens mit den Trieben, der Form mit dem Chaos, des Menschen mit dem Jenseitigen oder mit dem Schicksal. Der Drache ist ein Bild für die ungestaltete und gefährliche Natur wie für das eigene Unbewusste.“18

      Dem Wort „Drache“, ein Lehnwort in der deutschen Sprache, liegt das griechische drakon („der furchtbar Blickende“) zugrunde; im Germanischen entspricht ihm das Wort „Wurm“ (oder Lindwurm), der auch in der germanischen Mythologie im Mittelpunkt zahlreicher Drachenkämpfe steht. In der Mythologie vieler Völker erscheint der Drache als eine fabelhafte Mischgestalt, zumeist eine Kreuzung aus Vogel und Schlange, auch aus Löwe und Vogel, mehrköpfig, Feuer speiend, möglicherweise auf eine vorzeitliche Saurierform zurückgehend. Meist wird der Drache mit beschupptem Körper, übergroßen Fledermausflügeln, Hörnern auf dem Haupt und furchtbaren Fangzähnen dargestellt; sein giftiger Atem kann töten wie ebenfalls sein starrer Schlangenblick. In vielen Schöpfungsmythen verkörpert der Drache die bösen gottfeindlichen Mächte; er hält die fruchtbringenden Wasser zurück, will Sonne und Mond verschlingen, bedroht die Mutter des heilbringenden Helden, oder er muss getötet werden, damit die Welt entstehen kann.

      Der heldenhafte Drachenkampf findet sich in indoeuropäischen, aber auch vorderasiatischen, alttestamentlichen wie christlichen Mythologien; er scheint ein kulturübergreifendes Symbolbild darzustellen. Schon die Antike kannte Drachenkämpfe – Zeus gegen Typhon, Herakles gegen die berüchtigte Hydra von Lerna, Bellerophon gegen die Chimaira (daher das Wort „Schimäre“), Perseus bei der Befreiung der Andromeda. Der Drachentöter ist entweder ein Sonnenheld oder die Verkörperung jenes frühjahrszeitlichen Donner- und Gewittergottes, der im Pantheon des Heidentums stets im Mittelpunkt stand. Der älteste Drachentöter, den wir überhaupt kennen, scheint der altindische Hochgott Indra gewesen zu sein. In den Gesängen des Rigveda, die bis auf die Zeit um 1800 v. Chr. zurückgehen, wird er als der Götterkönig und Schirmherr aller Krieger angerufen, als den Gebieter über Blitz und Donner, der erlösende Gewitter herbeiführt, indem er Vritra, den Drachen der Dürre tötet. In einem dieser Hymnen heißt es:

       Den schrecklichen Unhold jage hinaus

       Und, Indra, des Drachen Kiefer zerbrich,

       Und den Grimm, du Drachentöter, treib aus

       Dem Widersacher, das bitten wir dich.19

      In einer modernen poetischen Nacherzählung des vedischen Drachenkampfmythos finden wir den Drachen Vritra wie folgt beschrieben: „Writra verfügt im Gegensatz zu den meisten Göttern über magische Kraft, und vermöge dieser Kraft kann er mancherlei Gestalt annehmen; einmal erscheint er als Schlange, ein andermal als Eber. Auch seinen Aufenthaltsort wechselt er: jetzt ist er auf dem Gipfel eines Berges, dann liegt er auf der Oberfläche des Meeres. Starke Festungen – neunundneunzig an der Zahl – stehen ihm zu Diensten; hier verteidigt er sich gegen die Angriffe der Götter. Seine Waffen sind Blitz, Donner, Hagel und Nebel. Besonders vom Nebel macht er Gebrauch, und daher nennt man ihn auch den Nebling. Sich selbst hüllt er in Nebel ein, und über seinen Gegner wirft er einen Nebelschleier, damit er die Spur verliert und sich verirrt.“20

      Und hier nun der Drachenkampf Indras: „Der Somatrunk verlieh Indra besonderen Mut und gab ihm unüberwindliche Kraft. Hochauf schwingt er sich in die Luft und zielt mit seiner Waffe auf Writra; dieser aber benutzt seine magischen Fähigkeiten, hüllt sich in Nebel und stürzt sich in voller Größe auf den Angreifer. Indra

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