Erzählwege. Regina Richter
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Die Spuren seiner flinken kleinen Dribbelschritte zeichneten sich dabei im feuchten Sand ab. Eine dünne Rinne zwischen seinen Fußabdrücken in der Mitte zeugte von seinem langen dünnen Mauseschwanz, den er hinter sich herzog. Es gab nichts in seinem jungen Leben, das ihm mehr Spaß gemacht hätte, als am Strand, ganz nah am Wasser, herumzutollen, aber er wusste auch aus den Warnungen der älteren Mäuse, dass einem das Meer gefährlich werden konnte.
Zu manchen Zeiten des Tages kam das Wasser immer weiter nach vorne und fraß alles, was sich in seiner unmittelbaren Nähe befand. Sandburgen, einsame Badeschuhe, kleine Tiere, jeden Abdruck im Sand, alles verschwand in dem unheimlichen, riesigen Meeresbauch. Bei Wind oder gar Sturm konnte es hungrig auf einen zurollen und einem seine wilden Wellen entgegenschlagen. Das Wasser war im Stande sich blitzschnell nach vorne zu stülpen, um alles in seiner Reichweite zu verschlingen. Danach war man selbst mitsamt seinen Fußspuren für immer verloren.
Der kleine Mäuserich ängstigte sich vor dem gefräßigen Meer, doch gleichzeitig liebte er das große Wasser, wie es spritzte und seine weißen Schaumkronen stolz vor sich hertrug. Immer und immer wieder wagte er sich nahe heran.
Eines Nachts sprang der junge Mäuserich besonders wild vor dem Meer auf und ab, als wollte er es herausfordern, buddelte ein wenig und tapste übermütig umher. Das Meer hatte sich an diesem Tag für seine Verhältnisse bislang sehr gemäßigt verhalten. Selbst der Wind blies eher sanft und schien sich einige Male sogar gänzlich auszuruhen. Der Mäuserich dachte nicht einmal im Traum daran, dass heute Abend irgendetwas passieren könnte, das sein Leben für immer verändern sollte. Doch er irrte sich.
Mit einem Mal kam scheinbar aus dem Nichts mit einem Krachen ein Donner auf ihn zu, der sich wie ein großer, gigantisch lauter Atemstoß anfühlte. Der Wind gab all seine Kraft, die er sich bis dahin aufgespart hatte, in einem einzigen Grollen von sich und brachte das Wasser gleich mit sich. Nie zuvor hatte der Mäuserich eine derartig gigantische Welle erlebt.
In dem Moment, in dem er aufblickte, weil er ihre ersten Tropfen verspürte, brachen die Wassermassen auch schon über ihn herein und verschluckten ihn gierig. Der Mäuserich ruderte und strampelte verzweifelt um sein Leben. Ein paar Mal hatte er sogar das trügerische Gefühl, wieder an Land gespült zu werden. In Wirklichkeit aber zog es ihn immer weiter hinaus in Richtung offene See.
Bald waren seine kleinen Beinchen zu kraftlos, um weiter gegen den übermächtigen Sog anzukämpfen. Jetzt könnte man meinen, dass dies das frühe Ende des damals noch jungen Großvater Maus war, doch zum Glück war es das nicht.
Wie durch ein Wunder sah er neben sich aus den wütenden Wellen heraus etwas auftauchen. Es war gelb, tanzte wild auf dem tosenden Wasser und hatte die Form einer Plastikschaufel, wie Kinder sie zum Sandburgenbauen benutzen. Mit letzter Kraft gelang es ihm, sich im Vorbeitreiben an dem rutschigen Ding festzuklammern. Völlig erschöpft trieb er darauf bis in die Mitte des Ozeans, einer ungewissen Zukunft entgegen.«
»Und wie ist er dann wieder an Land gekommen?«, will der kleine Junge wissen, der seiner Schwester die ganze Zeit über gebannt an den Lippen gehangen hatte.
»Stimmt, es dürfte schwierig werden, den Mäuserich auf diese Weise noch zu retten«, denkt Marie laut für sich und schließt für einen Augenblick die Augen. »Dann muss es anders weitergehen. Ich setze noch einmal da ein, wo der Mäuserich versucht hat, wieder in Richtung Strand zu schwimmen. Pass auf:
Als er schon dachte, er könnte es nicht mehr schaffen, kam auf einmal eine Riesenwelle und schleuderte ihn auf den harten, nassen Strand zurück. Benommen rappelte er sich auf und schleppte sich glücklich und zugleich gedemütigt davon. In dieser Nacht beschloss der Mäuserich auf Wanderschaft zu gehen, um sich ein neues Zuhause zu suchen, so weit entfernt wie möglich von dem gefährlichen Meer, das ihn beinahe das Leben gekostet hätte.
So wanderte er durch verschiedene Länder, überquerte hohe Berge und fuhr sogar heimlich in Lastwagen mit, bis er endlich hier landete, in unserem Heuschober, dem trockensten Ort, den er sich auf der ganzen Welt vorstellen konnte, weit weg von dem großen, bösen Nass.
Und doch hörte der Großvater noch immer das Meeresrauschen in seinen Ohren. Trotz der einstigen Todesangst hallte es sehnsüchtig in ihm nach«, beendet Marie nun zufrieden die Geschichte und wendet sich an ihren Bruder.
»Jetzt bist du dran. Du musst auch etwas für mich erfinden.«
Der Kleine lacht über das ganze Gesicht. »Eine kleine Maus kam aus dem Haus und aus.«
Nach solchen fantastischen Ausflügen schweben die zwei Kinder auf dem Heu mehr als dass sie liegen und betrachten einen winzigen Ausschnitt des Universums durch ihr Dachfenster. Die beiden Geschwister trennen ganze fünf Jahre, doch trifft man selten den einen ohne den anderen an, Marie und Anton Reichert.
Der Hof der Familie Reichert ist nicht besonders groß, aber es gibt Tiere und schwere Fahrzeuge, Felder, die umgeackert, und Kartoffeln, die geerntet werden müssen, nicht zu vergessen die Arbeiten im Wald.
Der junge Hofhund Oskar, ein liebenswerter Labradormischling, leckt jedem Besucher die Hand, lediglich die Gänse melden Neuankömmlinge in wildem Radau bis zu dem Zeitpunkt, an dem sie ihrer endgültigen Bestimmung nachkommen.
Der Vater Franz arbeitet zusätzlich in der nahegelegenen Stadt, Mutter Carola kümmert sich um die Kinder und den Hof. Viele Jahre vergehen, in denen das Leben irgendwo dazwischen passiert.
Kapitel 2: Im Wald
»Anton, kannst du mit der Kettensäge die Baumstämme da hinten zerteilen? Ich entaste derweil den großen hier vorne«, ruft Franz seinem Sohn zu.
Anton ist mittlerweile achtzehn und liebt das Arbeiten im Wald. Das Knacken, wenn die Bäume gefällt werden, die erstaunliche Wucht, die sich entfaltet, wenn sie umstürzen und sich ihren Weg durch andere Bäume und das Geäst der Blätterkrone bahnen, ist beeindruckend. Dabei begraben und zermalmen die hölzernen Riesen kleinere Pflanzen und Tiere unter sich, die sich aufgrund ihrer festen Verwurzelung oder der eingeschränkten Perspektive in Richtung Himmel nicht rechtzeitig in Sicherheit bringen konnten. Nur jene, welchen es gelingt, Reißaus zu nehmen oder sich in eine Höhle, ein kleines Erdloch zu flüchten, bleiben am Leben, mitunter zugedeckt von einem tonnenschweren Stamm oder einer rauschenden Blätterkrone.
Wo auch immer man in diesem Stück Natur geht und steht, begleiten einen die unterschiedlichsten intensiven Gerüche, die einen benommen machen, so feucht und moosig und schwer.
Mit geübtem Griff zerteilt Anton die Baumstämme zum Abtransport. Die frischen Schnittstellen verströmen ihren eigenen unverwechselbaren, bisweilen sogar fruchtig anmutenden Duft. Hier in diesem Wald fühlt sich für ihn alles wie eins an.
Sogar der gestrige Streit mit Marie scheint weit entfernt. Was wohl urplötzlich in seine Schwester gefahren war? Angeblich hatte sie Antons Freundin mit einem seiner Freunde gesehen. »In eindeutiger Umarmung«, wie sie zu betonen nicht müde wurde. Er hatte ihr keinen Glauben schenken wollen. Daraufhin war sie förmlich an die Decke gegangen, schreiend, kreischend, unversöhnlich.
Zu Antons Leidwesen vertreibt die laute Säge, mit der er heute hantiert, die wilden Tiere, die er ansonsten nicht müde wird zu beobachten. Sogar im frühen Morgengrauen, auch gerne nach durchfeierter Nacht, harrt er bisweilen stundenlang auf dem Hochsitz aus. Diese zarten, zum Teil aber auch mächtigen Tiere, faszinieren ihn.
Sein Vater ist Jäger, aber er, der Sohn, will noch nicht schießen. Vorgestern im frühen Morgengrauen ist er erst noch mit seiner Freundin hier gewesen. Sie hatte vermutlich gedacht, er wolle sie auf dem Jägerstand