Erzählwege. Regina Richter

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Erzählwege - Regina Richter

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und in ihrem noch jungen Leben entfalten können. Für alles andere bliebe später immer noch genug Zeit.

      Die Feiertage sind zugegebenermaßen strapaziös gewesen, geprägt von zu viel Essen auf der einen und zu wenig Schlaf auf der anderen Seite. Seit ein paar Tagen ist ihm zudem ab und an leicht schwindelig. Vielleicht, so vermutet er, sind es auch nur die Nachwirkungen der äußerst ausgiebig begangenen Silvesternacht.

      Trotz des latenten Unwohlseins kommt für Franz ein untätiger Tag im Bett nicht in Frage. Jetzt, da endlich einmal alle für ein paar Stunden aus dem Haus sind, möchte er sich an die Buchhaltung machen, den Erlös aus dem Weihnachtsbaumverkauf berechnen und sich an die Planungen für das kommende Jahr setzen.

      Seine Frau hatte die gute Idee, die Imkerei weiter auszudehnen und Interessierte dafür an den Hof zu locken. »Bienen sind voll im Trend«, hat Carola gemeint. Andere Imker könnten bei ihnen ihre Kästen unterstellen, Wissbegierige sich informieren. Seine Aufgabe ist es nun, dafür die Werbetrommel zu rühren.

      Unter dem Küchentisch stupst der Hund ihn mit seiner feuchten Schnauze an. »Ja, Oskar, du bist ja mein Guter«, tätschelt er ihn. »Nachher gehen wir noch in den Wald und sehen an der Futterkrippe nach dem Rechten.«

      Der Wald ist für Franz so etwas wie ein zweites Wohnzimmer. Einfach so in einem fremden Wald herumzuspazieren würde ihm nie in den Sinn kommen, aber ein eigenes Stück davon zu besitzen und die dazugehörigen Bäume, Pflanzen und Tiere zu hegen und zu pflegen, erfüllt ihn mit Stolz. Dieser Flecken Natur erscheint ihm wie eine Verlängerung seines eigenen Hauses, ein Freiluftraum unter einem dichten Blätterdach, in dem alles möglich ist, essen, arbeiten, reden, lachen, leben.

      Er selbst betrachtet sich als einen Teil des Waldes und dieser ist wiederum ein unverrückbarer Part von ihm, genauso wie es einst bei seinem Vater und davor bei seinem Großvater gewesen ist. Er weiß, dass sich auch Anton und Marie jeder auf seine eigene ganz besondere Art und Weise tief mit dem ganzen Hof, aber vor allem mit dem Wald verbunden fühlen.

      Marie ist so stark mit allen Lebewesen in dieser saftigen grünen Natur verwurzelt, dass es Franz vorkommt, als lebte seine Tochter förmlich mit den Moosen, Bäumen, kleinen Flechten, Hasen und Mäusen des Waldes. Bis auf das letzte weiße Hemdchen würde sie alles mit den Bewohnern des Waldes teilen, um am Schluss über und über mit Laub und Beeren belohnt zu werden.

      Bei Anton verhält es sich etwas anders. Franz hat den Eindruck, sein Sohn könne inmitten all dieser Natur vor allem eines, nämlich klarer denken. Seine Sinne wirken hier geschärfter, seine Atmung konzentrierter als irgendwo sonst.

      Bei der Wendeltreppe, die in den Keller führt, nimmt Franz meist freihändig zwei Stufen auf einmal, doch heute hält er sich lieber, Schritt für Schritt, am Geländer fest. Erneut ist ihm schummrig zumute, sein Kopf fühlt sich an wie mit Schaumstoff umhüllt.

      »Werde ich mir doch keine Grippe eingehandelt haben. Dafür habe ich jetzt überhaupt keine Zeit«, argwöhnt er, gleichzeitig energisch beschließend sich nicht weiter damit zu beschäftigen.

      Im Untergeschoss hat Franz sich ein kleines Büro, ausgestattet mit einem Computer, einer leistungsstarken Musikanlage und ein paar Hanteln für zwischendurch, eingerichtet. Schwungvoll dreht er die Anlage auf – »heute kann ich ja mal lauter also sonst« – fährt den Rechner hoch – »ah, den Kaffee habe ich vergessen« – steht auf, um ihn zu holen – »was soll denn schon wieder dieser Schwindel« – will sich wieder hinsetzen, seine Knie geben nach – »wir sollten öfter tanzen gehen«, denkt er sich völlig unzusammenhängend – rutscht weiter – verliert das Bewusstsein.

      Der Bürostuhl hat Armstützen. Schief, halb am Boden, hängt Franz zwischen einer der Lehnen und der Sitzfläche unglücklich mit dem Kopf fest, als Carola ihn endlich nach wer weiß wie langer Zeit findet.

      Verwundert und merklich eingeschränkt erwacht Franz erst im Krankenhaus wieder. Ohne Wenn und Aber lautet die Diagnose Schlaganfall. Das Sehen bereitet ihm Probleme, die rechte Hand, vielmehr die ganze rechte Seite scheint nicht mehr zu gebrauchen zu sein und auch die Worte, sie wollen nicht so recht heraus zwischen den rechts leicht nach unten hängenden Lippen.

      Die Krankenhaustage bringen Geschäftigkeit mit sich, zusätzlich müssen zu Hause die Tiere und der Hof versorgt werden, doch an den ruhigen Abenden erlöst die zurückgebliebene Familie leider keine alltägliche Ablenkung von ihren Sorgen.

      Schweigend sitzen die Geschwister mit ihrer Mutter um den vertrauten Tisch, der nun kaum noch einladend wirkt. Auch wenn nur eine Person fehlt, so scheint diese Holzplatte auf vier Beinen, eines der bisherigen Kernstücke der Familie, komplett leergefegt zu sein. Aussagen von Ärzten werden wiedergekäut, muss doch der Raum auf irgendeine Weise, notfalls mit bereits Bekanntem, gefüllt werden.

      Dann passiert es endlich und zugleich viel zu früh. Auch wenn sich an seinem gesundheitlichen Gesamtzustand nur wenig geändert hat, wird Franz aus der Klinik entlassen. Die nach wie vor bestehende rechtsseitige Lähmung macht für ihn nicht nur ein selbstständiges Fortkommen ohne Rollstuhl unmöglich, die unnütze Hand schränkt ihn zudem derart ein, dass er bei zahllosen alltäglichen Verrichtungen dauerhafte Unterstützung benötigt. Auch sein Sprechen, sogar seine Stimme sind verändert, wenn er nun langsam und gepresst um die passenden Worte ringt. Einzig und allein das Sehen hat sich deutlich verbessert, was erfreulich ist, die anderen Defizite dennoch nicht auszugleichen vermag.

      Seitdem der Vater wieder zu Hause ist, zieht sich die Mutter nach ihrem vollbrachten Tagwerk immer zeitiger zurück, um ihre Augen versteckt vor den Blicken der Kinder mit Tränen zu füllen und den Tag für sich selbst nicht unnötigerweise in die Länge zu ziehen. Der Schlaf, dem sie manchmal ein wenig nachhelfen muss, ist in seiner Abgeschiedenheit vom wirklichen Leben derzeit ihr bester Freund. Ihre sichtlich von der Situation betroffenen Kinder lässt sie im restlichen Licht des ausgehenden Tages auf sich gestellt zurück.

      Meistens sitzen Anton und Marie dann noch für eine Weile in der Wohnküche zusammen, aber ihre Unterhaltungen gestalten sich äußerst mühsam. Früher spielten sie das Spiel, wer als Erster spricht, hat verloren. Jetzt haben die Ereignisse den einst harmlosen Zeitvertreib ins Gegenteil verkehrt. Das erste Wort bekommt den Zuschlag.

      »Was hat das alles zu bedeuten?«, wagt Anton sich vor, nachdem die Mutter sich an einem Abend früher denn je zurückgezogen hat. Als Marie zu ihm aufsieht, wiederholt und ergänzt er seine Frage: »Was bedeutet das jetzt für uns?«

      Zaghaft schüttelt sie lediglich den Kopf.

      »Erzähl mir eine Geschichte, Marie, eine Geschichte darüber, wie das hier ausgehen wird«, fleht Anton seine ältere Schwester beinahe flüsternd an, während er die Hände gefaltet in ihre Richtung reckt. »Ich brauche einen Anhaltspunkt. Was soll ich anfangen mit meinem Leben? Wie und wofür soll ich mich entscheiden?«

      »Anton, du bist kein Kind mehr«, startet Marie ihren Versuch, sein Ansinnen abzuweisen. »Wir sollten …« Mitten im Satz hält sie inne, während sie ihren Bruder abwägend taxiert.

      Aus Erfahrung weiß sie, dass er nicht eher aufgeben wird, als dass sie sich geschlagen gibt. Zudem macht er, zusammengesunken wie er vor ihr sitzt, einen überaus elenden Eindruck.

      Sie kann nicht anders, sie muss ihm helfen. »Also gut, ich habe eine Idee, die durchaus Sinn machen könnte«, gibt sie sich einen Ruck. »Wir können sie gemeinsam durchgehen, unsere zukünftigen Lebensgeschichten in verschiedenen Varianten, soweit das überhaupt möglich ist. Sozusagen erzählen wir uns unsere Zukunft gegenseitig vorneweg. Vielleicht fällt es dir danach leichter, dich durch den derzeitigen Dschungel zu navigieren. Aber ich brauche dabei deine Unterstützung.«

      Auffordernd

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