Unziemliches Verhalten. Rebecca Solnit
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Ich las Bücher im Stehen in Buchhandlungen, entlieh sie in der Bücherei oder suchte monate-, wenn nicht jahrelang nach günstigen gebrauchten Ausgaben; ich hörte Musik im Radio und nahm die Schallplatten von Freundinnen und Freunden auf Kassette auf; ich beäugte Gegenstände und fühlte mich angespornt und zugleich beunruhigt von dem Versprechen, das sie bargen: dass dieses Paar Stiefel oder dieses Hemd mich zu der machen würde, die ich sein musste oder sein wollte, dass das, was an mir unvollständig war, nur ein Loch war, das mit Dingen gestopft werden konnte, dass das, was man hat, neben dem, was man will, verblasst, dass Wollen durch Haben kuriert werden kann, durch Mehr-als-das-Nötige-Haben.
Ich wollte immer noch etwas, noch etwas anderes, und wenn ich es hatte, wollte ich das Nächste, es gab immer etwas Weiteres zu wollen. Dieses Begehren nagte an mir. Ich wollte Dinge so dringend haben, mit einem so schmerzlichen Verlangen, dass es mich regelrecht aushöhlte, und der Prozess des Wollens nahm oft weit mehr Zeit und Vorstellungsraum in Anspruch als nachher die tatsächliche Person, der Ort oder das Ding; der imaginäre Gegenstand besaß größere Macht als der tatsächliche. Und wenn ich das Ersehnte dann hatte, ließ das Begehren nach – es war das Begehren, das so lebendig war –, und dann kam es wieder und gaffte und gierte nach etwas Neuem. In Liebesbeziehungen konnte natürlich Ungewissheit das Begehren lebendig halten (das sich mit den verlässlicheren und netteren Männern dann in jene andere Art von Bindung verwandelte, die wir Liebe nennen).
Was ich mehr als alles andere wollte, war eine Verwandlung nicht meines Wesens, sondern meiner Umstände. Ich hatte keine klare Vorstellung davon, wo ich hinwollte, aber ich wusste, dass es möglichst fern von da sein sollte, wo ich herkam. Vielleicht handelte es sich tatsächlich weniger um Begehren als vielmehr um das Gegenteil, Aversion und Flucht, und vielleicht hatte für mich deshalb das Gehen eine so große Bedeutung: Es gab mir das Gefühl, irgendwohin zu gelangen.
Zumindest eine frühe Vorstellung, wie ein lebenswertes Leben aussehen könnte, hatte ich. Als Jugendliche las ich Anaïs Nins Tagebücher, und die plastischen Schilderungen ihres Pariser Lebens in der Zeit zwischen den Weltkriegen vermittelten mir ein Bild von geschützten Räumen, in denen tiefe, forschende Gespräche möglich waren, von Leben, die sich verwoben und gegenseitig befruchteten, von der Wärme, die leidenschaftliche Freundschaften spenden können. Viele Jahre später, als ich mit einigen Freundinnen und Freunden, für die ich gekocht hatte, an meinem Küchentisch – einer Linoleumplatte auf Chrombeinen – saß, waren die linke Historikerin Roxanne Dunbar-Ortiz und ich uns einig, dass wir nach genau diesen Dingen in unserer einsamen Jugend gehungert hatten. (Noch später fand ich zu meiner Bestürzung heraus, dass Nin, die ihren Mann, einen Bankangestellten, in den veröffentlichten Tagebüchern verschwiegen hatte, gar nicht die von der Hand in den Mund lebende Bohemienne gewesen war, als die sie sich darstellte.)
Neben dem Herd befanden sich zwei Spülbecken, ein normales fürs Geschirr und rechts davon ein tieferes zum Wäschewaschen, das ich mit einer alten emaillierten Abtropfplatte abdeckte, die zur Küche gehörte; nach einer Weile begann das tiefe, dunkle, feuchte Becken unter der Abdeckung immer zu muffeln, sodass ich sie ab und zu herunternehmen und das Becken ordentlich scheuern musste. Früher hatten die Frauen darin die Wäsche von Hand gewaschen, und in meinen ersten Jahren in der Wohnung gab es auf dem Flachdach unseres Gebäudes noch eine Art hölzernen Käfig, in dem man die Wäsche aufhängen konnte, die obersten Stufen der Treppe, über die man dort hinaufgelangte, knirschten vom Abrieb der Dachpappe.
Der ursprünglich gelb-grüne Linoleumboden in der Küche hatte sich in etwas Mürbes, Rissiges verwandelt, das man praktisch nicht sauber halten konnte, also strich ich ihn schwarz an, und das immer wieder von neuem, sobald die Farbe sich abgenutzt hatte. Aber an sonnigen Morgen strömte das Licht in die Küche, durch das östliche Erkerfenster auch in das große Zimmer, und im Winter sickerte es den ganzen Tag durch das südliche Erkerfenster herein. Der Erker ging auf die Fulton Street und eine Straßenlampe hinaus, und manchmal saß ich dort und schaute gebannt zu, wie sich die Nebelschwaden, die der Wind vom kalten Meer hereintrieb, unter der Straßenlampe gleich gigantischen, phantasmagorischen Steppenläufern übereinanderwälzten.
Oder ich lag im Bett und hörte in der nächtlichen Stille die fernen Nebelhörner tuten. Wenn ich nachts aufwachte, mitten in der Großstadt, in einer Wohngegend, die zur Innenstadt gezählt wurde, hörte ich oft die Nebelhörner, und sie trugen mich an den Rand der Stadt und darüber hinaus, zum Meer, zum Himmel, zum Nebel. Ich hörte sie so häufig, dass sie mir im Rückblick mit jenem Zustand mitten in der Nacht gekoppelt zu sein scheinen, wenn man nicht ganz wach ist, aber auch nicht schläft, wenn die Gedanken wandern, der Körper aber mit der Jupiter’schen Schwere des Schlafs ans Bett gefesselt ist. Sie riefen mich, als wäre ich ein verirrtes Schiff, aber nicht, um mich nach Hause zu leiten, sondern um mich an das Meer und die Luft dort draußen zu erinnern, mit denen ich auch hier in meinem Kabuff verbunden war.
Ich lebte so lange in dieser kleinen Wohnung, dass sie und ich förmlich miteinander verwuchsen. Am Anfang hatte ich kaum etwas darin stehen, und sie kam mir riesig vor, zum Schluss war sie vollgestopft mit Büchern, unter dem Bett standen etliche Kartons mit Papieren, und ich fühlte mich beengt. In meiner Erinnerung schimmert die Wohnung wie das perlmutterne Gehäuse eines Perlboots, als wäre ich ein Einsiedlerkrebs und hätte mich in eine besonders zauberhafte Zuflucht verkrochen, bis diese, so war nun mal der Gang der Dinge, zu klein für mich geworden war.
Auch zwölf Jahre nach meinem Auszug sehe ich noch jedes Detail vor mir, greife in Gedanken manchmal in das dortige statt mein jetziges Medizinschränkchen, nenne dem Taxifahrer, nachdem ich mich in meinem alten Viertel etwas umgesehen habe, meine Adresse in der Lyon Street, ehe mir einfällt, dass ich dort ja schon seit vielen Jahren nicht mehr wohne, dann die darauffolgende und erst zum Schluss meine jetzige Adresse, die sich mir niemals so in die Psyche einbrennen wird, wie es die alte tat. Als ich dort wohnte, träumte ich oft von der Straße, die an meinem Elternhaus vorbeiführte, sich zur Landstraße wandelte und dann vor einer Pferdekoppel endete, der Straße, von der aus ich durch Stacheldrahtzäune zu so vielen meiner Abenteuer geschlüpft war, und so wie damals von dieser Straße träume ich heute von meiner kleinen Wohnung in der Lyon Street, die ein so prägender Ort für mich war.
Als ich dort noch wohnte, träumte ich oft, ich fände ein weiteres Zimmer darin, eine weitere Tür. In mancher Hinsicht war die Wohnung ich und ich sie, sodass diese Entdeckungen sich auch auf mich selbst bezogen. Ich träumte wieder und wieder von meinem Elternhaus als einem Ort, an dem ich in der Falle saß, meine Wohnung hingegen engte mich nicht ein, sondern eröffnete mir neue Möglichkeiten. In meinen Träumen war sie größer, hatte mehr Zimmer, Kamine und geheime Gemächer, besaß Schönheiten, die im wahren Leben nicht existierten, und einmal öffnete sich die Hintertür auf leuchtende Felder statt auf das tatsächliche trostlose Gerümpel dort.
Unter dem weißen Anstrich der Küchenwände sah man die Struktur einer PVC-Tapete mit Backsteinprägung, und eines Tages riss ich sie herunter. Es war wie Verbände von einer Wunde zu reißen. Sie löste sich in großen Stücken ab, und die nächste Tapetenschicht kam gleich mit. Unter dieser befand sich eine noch ältere, schönere Tapete mit einem Muster aus rankendem Efeu. Als ich das hellbraune Muster sah, spürte ich sehr lebendig die Gegenwart der Menschen, die vor mir hier gewohnt hatten, weitere Schemen, andere Zeiten, vor dem Krieg, als dieses Viertel ein ganz anderer Ort mit anderen Leuten auf einer noch sehr anderen Welt war.
Dann wiederholte ich den ganzen Vorgang im Traum erneut, doch diesmal erschien unter den alten Tapeten eine dichte Collage aus Zeitungs- und Zeitschriftenausschnitten und Stoffstücken, jede Menge Blumenmotive in rosigen Tönen, üppig und eigenartig, ein Garten aus lauter Fetzen. Im Traum wusste ich, dass es sich um die Hinterlassenschaft einer anderen Frau handelte, die vor mir hier gewohnt hatte, einer alten Schwarzen mit gestalterischer Gabe.
Das