Unziemliches Verhalten. Rebecca Solnit
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Das aufgewühlte Meer und der lange Sandstrand boten mir eine andere Art von Zuhause, eine andere Art von Zuflucht, denn hier in dieser Weite, angesichts des Himmels und des Meeres, des fernen Horizonts, der vorbeiziehenden Wildvögel, relativierten sich meine Ängste und Sorgen. Meine Wohnung war meine Zuflucht, mein Brutkasten, mein Schneckenhaus, mein Anker, mein Startblock und ein Geschenk von einem Fremden.
Leben im Kriegszustand
1
Eine Freundin schenkte mir einen Schreibtisch, kurz nachdem ich in die Wohnung gezogen war, einen kleinen Damenschreibtisch oder Frisiertisch, an dem ich auch jetzt gerade schreibe. Es ist ein zierliches viktorianisches Möbelstück mit jeweils zwei schmalen Schubladen rechts und links sowie einer breiten Schublade oberhalb der Aussparung für die Beine und mit zahlreichen Verzierungen – gedrechselte Tischbeine mit einer knieartigen Verdickung in der Mitte, rundliche Ornamente, bogenförmige Verzierungen am unteren Rand der Schubladenblocks, Griffe, die an Troddeln oder Tränen erinnern.
Unter den seitlichen Schubladen sitzen jeweils vier Beine, zwei vorne, zwei hinten. Trotz all des schmückenden Beiwerks ist dieser alte Schreibtisch sehr robust, ein achtbeiniges Lasttier, das im Laufe der Jahre so manches getragen hat, oder vielleicht auch zwei Lasttiere, verbunden durch die Tischplatte. Der Schreibtisch ist dreimal mit mir umgezogen. Auf ihm habe ich Millionen von Wörtern geschrieben: über zwanzig Bücher, Rezensionen, Essays, Liebesbriefe, mehrere tausend E-Mails an meine Freundin Tina in den Jahren unseres fast täglichen schriftlichen Austauschs, ein paar hunderttausend sonstige E-Mails, einige Laudationen und Nachrufe, einschließlich derer auf meine Eltern; an diesem Schreibtisch machte ich meine Hausaufgaben als Studentin und dann als Dozentin, er war und ist mir Pforte zur Welt, mein Sprungbrett nach draußen wie auch in mein Inneres.
Etwa ein Jahr bevor sie mir den Schreibtisch schenkte, wurde meine Freundin von einem Exfreund, der sie dafür bestrafen wollte, dass sie ihn verlassen hatte, mit fünfzehn Messerstichen schwer verletzt. Sie verblutete fast, erhielt Bluttransfusionen, und an ihrem ganzen Körper blieben lange Narben zurück, auf deren Anblick ich damals kaum reagierte, denn meine Fähigkeit, etwas zu fühlen, war mehr oder weniger erstickt worden, sei es durch die Gewöhnung an die Gewalt zu Hause, sei es, weil von uns erwartet wurde, dass wir mit so etwas klarkamen, es locker wegsteckten, damals, als die meisten von uns weder eine Sprache zur Benennung solcher Gewalt hatten noch ein Publikum, das zugehört hätte.
Sie überlebte; die Schuld an dem Vorfall gab man ihr, dem Opfer, wie es damals häufig geschah; für den Beinahemörder hatte seine Tat keinerlei rechtliche Folgen; sie zog fort, weit weg vom Ort des Geschehens; sie arbeitete für eine alleinerziehende Mutter, die vor die Tür gesetzt wurde und sie statt mit Geld mit diesem Schreibtisch bezahlte, und den schenkte sie dann mir. Sie zog weiter, und wir hatten viele Jahre lang keinen Kontakt, nahmen ihn irgendwann aber wieder auf, und sie erzählte mir die ganze Geschichte, eine Geschichte, die das Herz auflodern und zugleich die Welt gefrieren lässt.
Jemand versuchte, sie zum Schweigen zu bringen. Und dann schenkte sie mir ein Sprungbrett für meine Stimme. Heute frage ich mich, ob alles, was ich je geschrieben habe, ein Gegengewicht zu jenem Versuch darstellt, eine junge Frau auszulöschen. All meine Texte sind, im wörtlichen wie im übertragenen Sinne, auf der Grundlage dieser Tischplatte entstanden.
Während meiner Arbeit an diesem Buch öffnete ich einmal, an ebendiesem Tisch sitzend, die Website meiner örtlichen Bücherei, die ein Fotoarchiv mit Bildern der Stadt unterhält; ich erhoffte mir ein paar Eindrücke davon, wie meine alte Wohngegend früher ausgesehen hat. Das vierte Foto von der Straße, in der ich so lange wohnte, stammte vom 18. Juni 1958 und zeigte ein anderthalb Blocks von meiner Wohnung entferntes Haus; unter dem Bild stand: »Neugierige Passanten lugen in das Gässchen neben der Lyon Street 438, in dem heute der Leichnam von Dana Lewis, zweiundzwanzig, gefunden wurde, nackt bis auf einen schwarzen BH. Einer ersten polizeilichen Untersuchung zufolge weisen Blutergüsse am Hals des Opfers darauf hin, dass sie möglicherweise mit einem Seil stranguliert wurde.« Ihr Tod ist für die Zeitungsleute ganz offenkundig ein Spektakel, denn der Ton der Meldung hat etwas Sensationslüsternes, und auch die Passanten werden als neugierig beschrieben, nicht etwa als verstört durch den Anblick einer Leiche.
Die junge Frau war auch unter dem Namen Connie Sublette bekannt, und wie sich zeigte, wurde über ihren Fall damals in der Presse ausführlich berichtet. In den meisten Artikeln gab man ihr selbst die Schuld an ihrem Tod, weil sie eine sexuell aktive Bohemienne gewesen war, die außerdem trank. SEEMANN SPRICHT VON GELEGENHEITSMORD lautete eine Schlagzeile, mit dem Zusatz: OPFER PLAYGIRL. MORD BEENDET LOTTERLEBEN EINES PLAYGIRLS lautete eine andere Schlagzeile, in der Lotterleben wohl hieß, dass sie Sex, Abenteuer und Kummer hatte, und Playgirl bedeutete, dass sie es nicht anders verdient hatte. Ihr Alter wird mit zwanzig beziehungsweise vierundzwanzig angegeben. Der Exmann von Dana Lewis beziehungsweise Connie Sublette wohnte anscheinend in der Lyon Street 426, und dort war sie hingegangen, um Trost zu suchen, nachdem ihr Freund, ein Musiker, auf einer Party in den Tod gestürzt war.
Al Sublette war nicht zu Hause oder reagierte nicht, also saß sie weinend vor seiner Haustür, bis der Vermieter sie wegschickte. Ein Seemann bot ihr laut seiner eigenen Darstellung an, ein Taxi für sie zu besorgen, und brachte sie dann stattdessen um. Die Zeitungsleute scheinen seine Behauptung geglaubt zu haben, dass die Tötung ein Unfall war und sie, obgleich durch ihren Verlust am Boden zerstört, bereit gewesen war, in dem Gässchen mit ihm Sex zu haben. SEEMANN WOLLTE LIEBE: BEATNIK-MÄDCHEN ERMORDET lautete eine weitere Schlagzeile, als wäre das Erdrosseln eines anderen Menschen ein normaler Ausdruck des Wunschs nach Liebe. »Sie hat alles durch eine rosa Brille gesehen, und sie wollte immer nur das eine«, sagte ihr Exmann. Allen Ginsberg, der Al, nicht aber Connie Sublette fotografiert hatte, erwähnte ihren Tod ohne weiteren Kommentar in einem Brief vom 26. Juni 1958 an Jack Kerouac. Sie war bekannt, wurde aber kaum betrauert.
Ich wusste nicht, was in der Lyon Street 438 tatsächlich passiert war, wohl aber wusste ich, dass nur ein Stückchen weiter Richtung Nordosten die Schriftstellerin Maya Angelou in ihrer Jugend gelebt hatte, nachdem sie für fünf Jahre verstummt war, weil sie als Achtjährige mehrmals vergewaltigt worden war. Und ich wusste von der ein paar Blocks weiter in der anderen Richtung liegenden Wohnung, Golden Gate Avenue 1827, in die man Anfang 1974 die neunzehnjährige Patty Hearst in einer Hundertzwanzig-Liter-Mülltonne geschafft hatte – die Erbin eines Medienimperiums war von der Symbionese Liberation Army entführt worden, einer kleinen Gruppe wahnhafter Möchtegernrevolutionäre. Laut eigener Aussage wurde sie dort und zuvor schon an einem anderen Ort über mehrere Wochen gefesselt und mit verbundenen Augen in einer Besenkammer festgehalten und von zweien ihrer Entführer vergewaltigt. Diese beiden Geschichten fanden ihren Weg in die Presse. Für die meisten ähnlichen Geschichten aber galt das nicht, oder sie gelangten nur als kleine Meldung auf die hinteren Seiten.
Einige erlebte ich mit. Einmal sah ich spätabends durchs Fenster, wie im Eingang des Spirituosenladens auf der gegenüberliegenden Straßenseite ein Mann mit einem riesigen Messer eine Frau bedrohte. Als ein Streifenwagen fast lautlos heranrollte und die Polizisten den messerschwingenden Mann überraschten, ließ er die Waffe über den Bürgersteig wegschlittern und beteuerte, während Stahl auf Beton klirrte: »Alles in Ordnung, das ist meine Freundin.«
Der Autor Bill deBuys leitet eines seiner Bücher mit dem Satz ein: »Es liegt eine ganz bestimmte Form von Hoffnung in der Möglichkeit,